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Ein Foto von Syriens Präsident Assad.

© REUTERS/Yamam Al Shaar/File Photo

Syriens Wirtschaft am Abgrund: Wenn ein Monatslohn nur noch für ein paar Wassermelonen reicht

Eine Wirtschaftskrise setzt Syrien dramatisch zu. Neue US-Sanktionen könnten die Not der leidgeprüften Menschen vergrößern. Gerät Herrscher Assad in Bedrängnis?

Ein paar Kilo Obst. Dafür reicht ein durchschnittlicher Lohn in Syrien gerade noch aus. Die Landeswährung ist im freien Fall, das syrische Pfund verliert Tag für Tag dramatisch an Wert. Die Wirtschaftskrise vernichtet Ersparnisse und Existenzen, manche Fachleute halten sogar eine Hungersnot für möglich.

Schon jetzt müssen vier von fünf Syrern mit weniger als 1,70 Euro pro Tag auskommen. Doch nun könnte es für die leidgeprüfte Bevölkerung noch schlimmer kommen.

Die USA erhöhen den Druck auf das Regime von Baschar al Assad mit neuen Sanktionen, die am Mittwoch in Kraft traten - und wollen erst dann nachlassen, wenn der syrische Präsident Baschar al Assad politische Zugeständnisse macht.

Die Sanktionen alarmieren die Menschen. Sie protestieren, fordern das Regime auf, die Not zu bekämpfen. Der Staatschef nimmt die Sache ernst: Vor wenigen Tagen feuerte er seinen Ministerpräsidenten, um ihm die Schuld an der Misere zu geben. Aber mit einem neuen Gesicht am Kabinettstisch ist es kaum getan.

Viele Syrer kommen nicht an ihre Ersparnisse

Trotz des seit 2011 andauernden Kriegs und weit verbreiteter Korruption war die syrische Wirtschaft jahrelang relativ stabil. Nun hat eine verheerende ökonomische Krise im Libanon den wirtschaftlichen Status Quo beim Nachbarland zerstört.

Mehr als 80 Prozent der Syrer leben unter der Armutsgrenze. Viele Menschen, wie hier in Idlib, sind auf Hilfe angewiesen.
Mehr als 80 Prozent der Syrer leben unter der Armutsgrenze. Viele Menschen, wie hier in Idlib, sind auf Hilfe angewiesen.

© Omar Haj Kadour/AFP

Viele Syrer haben ihre Ersparnisse auf libanesischen Bankkonten in Sicherheit gebracht und kommen nun nicht mehr an ihr Geld. Die Regierung in Beirut hat den Zugriff unterbunden. Denn der Zedernstaat ist pleite.

Assads Unterstützer Russland und Iran haben selbst erhebliche wirtschaftliche Probleme und können Damaskus kaum helfen. Im Gegenteil.

Gerade die Führung in Moskau drängt darauf, dass Syrien sich für den Einsatz des russischen Militärs finanziell erkenntlich zeigt. Der Kreml soll Milliarden fordern, wird berichtet. Hinzu kommt die Offensive des Regimes gegen die Aufständischen in der letzten Rebellenhochburg Idlib - sie verschlingt Millionensummen.

Das syrische Pfund ist nichts mehr wert, der Kursverfall dramatisch.
Das syrische Pfund ist nichts mehr wert, der Kursverfall dramatisch.

© Aaref Watad/AFP

Das geht vor allem zu Lasten der syrischen Normalbürger. Die Preise für Nahrungsmittel haben sich innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt, der Kurs des syrischen Pfundes zum US-Dollar fiel vorige Woche auf einen neuen Tiefstand von 3000 Pfund für einen Dollar; allein seit April hat die Währung rund 70 Prozent an Wert verloren.

Das Durchschnittsgehalt eines syrischen Beamten beträgt umgerechnet nur noch 15 Euro im Monat, die Arbeitslosigkeit liegt nach Einschätzung von US-Geheimdiensten bei mindestens 50 Prozent. Vier von fünf Syrern leben den Vereinten Nationen zufolge unter der Armutsgrenze. Sechs Millionen haben ihr Zuhause verloren und sind Vertriebene im eigenen Land.

Informant schmuggelte Beweise für Misshandlungen aus dem Land

Es gibt kaum eine Familie, die nicht auf Hilfe angewiesen ist. Besonders prekär ist die Lage im umkämpften Idlib, dem letzten Rückzugsgebiet der Assad-Gegner. Für viele Syrer sei das Leben heute schwerer als in den dunkelsten Jahren des Krieges um 2014, sagt Charles Lister, Syrien-Experte beim Nahost-Institut in Washington.

Seit Mittwoch kommen neue US-Sanktionen hinzu. Sie zielen auf Unternehmen und Einzelpersonen, die mit Assads Syrien Geschäfte machen und dürften in erster Linie die Bauindustrie und den Energiesektor treffen.

Benannt sind die Strafmaßnahmen nach einem Informanten aus den Reihen der syrischen Sicherheitskräfte. Der schmuggelte unter dem Decknamen „Caesar“ Beweise für Misshandlungen und Mord in syrischen Gefängnissen ins Ausland.

Unter dem Decknamen "Caesar" hat ein ehemaliger Militärfotograf die Folter in Syriens Gefängnissen dokumentiert. Die USA haben ihre neuen Sanktionen nach ihm benannt.
Unter dem Decknamen "Caesar" hat ein ehemaliger Militärfotograf die Folter in Syriens Gefängnissen dokumentiert. Die USA haben ihre neuen Sanktionen nach ihm benannt.

© Lucas Jackson/Reuters

Als Militärfotograf hatte „Caesar“ zwischen 2011 und 2013 Bilder von Syrern gemacht, die in Assads Kerkern erst gequält und dann ermordet wurden. Es sind 28000 Fotos von Leichnamen, die bestialische Folterspuren aufweisen. Nach Recherchen von Amnesty International sind allein in der berüchtigten Haftanstalt Saydnaya zwischen 2011 und 2015 bis zu 13000 Menschen getötet worden.

Die Regierung in Damaskus und Teilnehmer an staatlich organisierten Demonstrationen werfen den USA vor, mit dem so genannten Caesar Act „wirtschaftlichen Terrorismus“ zu betreiben.

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Bisherige Gegenmaßnahmen wie Interventionen der Zentralbank zur Stärkung des Pfundes wirken jedoch hilflos. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana meldete, die Behörden experimentierten mit Anbau von Reis, um die Abhängigkeit von Importen zu verringern.

Assad sieht sich zum Handeln gezwungen

Das ändert nichts an der Not. Vor einigen Tagen gingen Bewohner der südsyrischen Provinz Suweida auf die Straße, um gegen die miserablen Lebensbedingungen und Assads Regierung zu protestieren; die Sicherheitsbehörden sollen mit Festnahmen begonnen haben.

Die Wirtschaftskrise könnte Herrscher Baschar al Assad gefährlich werden.
Die Wirtschaftskrise könnte Herrscher Baschar al Assad gefährlich werden.

© Alexei Nikolsky/imago images/Itar Tass

Doch Assad sieht sich zum Handeln gezwungen. Er entließ kürzlich Premier Imad Khamis und ersetzte ihn durch den bisherigen Wasserminister Hussein Arnous. Möglicherweise will der Herrscher vor der Parlamentswahl im Juli demonstrieren, dass er die Sorgen der Bürger ernst nimmt.

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Zwar gibt es unter Assads Diktatur keine demokratischen Wahlen - aber die Proteste machen deutlich, wie unbeliebt das Regime inzwischen ist.

Assad allein sei verantwortlich für die Lage, erklärten die USA. Der einzige Ausweg aus der Krise seien "unumkehrbare Schritte für eine politische Lösung" des Konflikts, schrieb die US-Regierung auf dem Twitter-Konto der seit 2012 geschlossenen US-Botschaft in Damaskus.

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Amerika werde den Druck auf Assad so lange erhöhen, bis es Fortschritte gebe. Bisher lehnt Syriens Regierung bei Gesprächen unter dem Dach der UN jeden Kompromiss mit der Opposition ab.

Kann Assad seine harte Linie angesichts der Wirtschaftskrise und der neuen US-Sanktionen durchhalten? Experte Charles Lister berichtet in einem Beitrag für das Magazin „Politico“ von vertraulichen Gesprächen des amerikanischen Außenamts mit russischen Diplomaten über eine neue politische Initiative für Syrien.

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Die USA sollten auf Zugeständnisse von Assad und eine Machtteilung mit der Opposition bestehen, fordert Lister. Er sieht die USA am längeren Hebel. Russland habe kein Interesse an einem wirtschaftlichen Kollaps des Verbündeten Syrien.

Dennoch gibt es Zweifel, ob der Kreml tatsächlich bereit wäre, seinen Schützling fallen zu lassen. Bisher sind alle westlichen Versuche gescheitert, Assad zum Einlenken zu bewegen. Nur: Die Wirtschaftskrise könnte sich für den syrischen Präsidenten letztendlich als ein gefährlicherer Gegner erweisen als der Krieg und die Aufständischen.

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