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Tausende Syrer wollen sich in ihrer alten Heimat ein neues Leben aufbauen, aber nur dort, wo die türkische Armee das Sagen hat.

© Nazeer Al-Khatib/Reuters

Syrien: Wie die Türkei Siedlungspolitik betreibt

Ein halbes Jahr nach der Besetzung der nordsyrischen Stadt Afrin droht eine weitere humanitäre Katastrophe. Die Türkei betreibt dabei Siedlungspolitik gegen die Kurden.

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Während das Interesse der deutschen Öffentlichkeit am Syrien-Krieg nachzulassen scheint, hat sich die Lage dort für Hunderttausende noch einmal verschlechtert. Aus dem nordsyrischen Afrin dürften bald bis zu 200.000 Männer, Frauen und Kinder geflohen sein – die meisten von ihnen sind Kurden.

Afrin ist eine kurdische Enklave an der Grenze zur Türkei, die vom Krieg weitgehend verschont geblieben ist – bis zum Januar dieses Jahres. Damals wurde Afrin von der türkischen Armee und mit ihr verbündeten Islamisten besetzt. Wie das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten schon vor Wochen erklärte, siedelt die Türkei systematisch Araber in Afrin an. Dabei soll es sich meist um syrische Palästinenser handeln, die oft aus Jarmuk bei Damaskus stammen. Dazu kommen offenbar syrische Turkmenen. Unter diesen beiden Bevölkerungsgruppen sind erzkonservative Sunniten vergleichsweise häufig, zumal solche, die im türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Beschützer der muslimischen Welt sehen.

Afrin wurde von einer Koalition säkularer, jesidischer, christlicher und moderat-muslimischer Syrer unter Führung der Kurdenpartei PYD regiert. Erdogan und letztlich auch Syriens Machthaber Baschar al Assad lehnen eine kurdische Autonomieverwaltung ab, obwohl Assad mit der PYD-nahen Miliz de facto einen Waffenstillstand vereinbaren ließ. Die PYD steht der Arbeiterpartei Kurdistans PKK nahe, die gegen Ankaras Militär und für kurdische Autonomie in der Türkei kämpft. Erdogan lässt die PKK derzeit auch im Nordirak bombardieren.

Auch Islamisten kommen nach Afrin

Neben arabischen Familien aus Flüchtlingslagern in der Türkei kommen nun auch Islamisten aus den einstigen Rebellenhochburgen Syriens nach Afrin: Man solle sich auf den Weg nach Afrin machen, heißt es in einschlägigen Internetforen, die „gottlosen“ Kurden dort würde man vertreiben. Erdogan hatte zuvor mit Assad aushandeln lassen, sunnitischen Rebellen freies Geleit in den Nordwesten des Landes zu gewähren.

„Die Ansiedlung dieser Familien in Afrin ist eine fundamentale Menschenrechtsverletzung und ein klarer Verstoß gegen internationales Recht“, erklärte die PYD. Tausende aus den Dörfern an der türkischen Grenze geflohene Kurden harren noch in der Stadt Afrin aus, im Internet sind Videos von Misshandlungen durch protürkische Milizionäre zu sehen. Viele Kurden sind nach Süden geflohen, dort verteidigen sie ein schmales Gebiet gegen türkische Truppen.

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Abu Kurdo, 62 Jahre alt, wohnt in jenem Streifen seit zwei Monaten in einem von der YPG beschützen Flüchtlingslager, 15 Kilometer vor Aleppo. In die Stadt selbst, das erklärt Kurdo in einem Telefongespräch, könne er nicht. Denn sie wird von Assads Truppen kontrolliert und die lassen viele kurdische Flüchtlinge nur gegen Schmiergeld durch: Umgerechnet 1000 Euro seien pro Person zu zahlen, um nach Aleppo, wo es ein kurdisches Viertel gibt, zu gelangen. Derart viel Geld habe kaum jemand. „Ich hatte in Afrin einen Lebensmittelladen, ich hatte ein ziemlich ruhiges Leben“, sagt Kurdo. „Bis vor wenigen Wochen musste ich meinen Kiez kaum verlassen – und nun warte ich in riesigen Schlangen hier weit weg, um ein Stück Brot zu bekommen.“

Abu Kurdo hat zwei Söhne. Einer von ihnen kämpft für die PYD in Kamishli. Das ist die De-facto-Hauptstadt der Rojava genannten kurdischen Autonomiezone in Syrien. Bis zum Januar gehörte auch Afrin dazu. „Schwieriges Gefühl, wenn man in diesem Alter sein Haus verlassen muss“, sagt Kurdo. „Ich weiß nicht mal, wer nun dort drinnen wohnt.“

Mit der Arabisierung Afrins möchte Erdogan verhindern, dass ein grenzüberschreitendes, womöglich von der PKK dominiertes Kurdengebiet entstehen könnte. Denn im Süden der Türkei leben ebenfalls – oft oppositionelle – Kurden. In Afrin lebten jedoch nicht nur Kurden, sondern auch christliche und muslimische Araber. Viele von ihnen flohen einst aus Aleppo vor Assads Bomben nach Afrin – einige flohen nun erneut.

Krankheiten brechen aus

In den Auffanglagern südlich von Afrin brechen immer wieder Krankheiten aus. Jiwan S., 22, stammt aus Kobane. Das ist jene syrische Stadt an der türkischen Grenze, die im Herbst 2014 weltweit bekannt wurde, weil die Kurden dort die Angreifer des „Islamischen Staates“ abwehrten. Jiwan S. arbeitet im Flüchtlingslager bei Aleppo für den Kurdischen Roten Halbmond. Auch er berichtet am Telefon: „In den vergangenen Wochen haben wir mehr als 1000 Fälle von Leishmaniose und Tuberkulose festgestellt – wegen des Mülls und der mangelnden Hygiene.“ Zwischen den Feldbetten tauchten Schlangen und Skorpione auf.

Im März hatte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) erklärt, man wolle, dass „keine türkischen Kräfte dauerhaft in Afrin verbleiben, und dies auch bei der türkischen Regierung mit allem Nachdruck“ einfordern. Im Auswärtigen Amt gebe es aber immer noch keine „abschließende Bewertung“ der Lage, wie Staatsminister Michael Roth (SPD) kürzlich auf eine Anfrage der Linken erklärte. Die Antwort zeige, dass die Kritik der Bundesregierung an der Besatzung Afrins bloßes Lippenbekenntnis gewesen sei, sagte Heike Hänsel, Vizechefin der Linksfraktion im Bundestag. Um den Nato-Partner Türkei „bei Laune zu halten, akzeptiert die Bundesregierung offensichtlich massenhafte Menschenrechtsverletzungen durch die türkische Armee, Vertreibungen und eine islamistische Kolonisierung des Nordens Syriens“. Auch außerhalb Syriens steigt der Druck. Vor einigen Tagen prügelten sich Araber mit Afriner Kurden – und zwar im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos im Mittelmeer. Die Araber warfen den Kurden vor, dass sie nicht fasteten, obwohl doch Ramadan sei.

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