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Ein unwirklich blauer Himmel und ein unwirklich furchtbares Ereignis. Fußgänger in Brooklyn schauen nach Manhattan.

© Henny Ray Abrams/AFP

Subjektives Zeitempfinden und kollektive Erinnerung: 20 Jahre 9/11 – aber war es gefühlt nicht gerade erst?

Die weit verbreitete Gegenwärtigkeit der Erinnerung an die brennenden Türme von New York erzählt etwas über den Reifegrad dieser Gesellschaft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Eine Zahl wird derzeit besonders häufig genannt. Es ist die Zahl 20. 20 Jahre ist es her, dass ziemlich genau um 14.45 Uhr MEZ zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers flogen. Dass nahezu die ganze Welt mit aufgerissenen Augen vorm Fernseher saß und nicht glauben wollte, was sie da mit ansah. Immer wieder, auf allen Sendern, in Endlosschleife.

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20 Jahre? Für viele Menschen fühlt sich 9/11 an wie ein Ereignis aus der Gegenwart. Die Attacke auf die USA, die dann Auslöser wurde für den ebenfalls 20 Jahre währenden Afghanistan-Einsatz, ist maximal präsent in Bildern im Kopf, in Erinnerungen. Und doch sind diese 20 Jahre wie auch alle anderen 20 Jahre davor je eine Generation, die erwachsen wird – so gesehen eine Ewigkeit.

Ein Faktor im Zeitempfinden kehrt sich im Laufe der Jahre um

Das menschliche Zeitempfinden ist unterschiedlich, und es wandelt sich im Laufe der Jahre. Das hat die Neuropsychologie wissenschaftlich nachgewiesen. Je mehr man in einer gewissen Zeit macht, desto schneller vergeht die Zeit. Monotonie dagegen macht sie zu Kaugummi.

So wie in der Schulzeit, wenn eine Stunde, in der man sich beteiligte, viel schneller rum war als eine, in der man angeödet Minuten zählte. Interessanterweise verändert sich genau dieser Faktor am subjektiven Zeitempfinden im Laufe der Jahre, er kehrt sich sogar komplett um.

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Und so erzählt die weit verbreitete Gegenwärtigkeit der Erinnerung an 9/11 auch etwas über den Reifegrad dieser Gesellschaft. Denn es werden jene sein, deren vergangene 20 Jahre eher ruhig dahinflossen, die die qualmenden und dann kollabierenden Türme vor dem strahlend blauen Himmel von New York für ziemlich gegenwärtig halten. Menschen, deren Arbeitsplätze und Kollegen, Freunde, Partner, Lebensumstände, Adressen, Hobbys mehr oder weniger dieselben sind wie damals. Menschen, die heute über 50 Jahre alt sind, die Babyboomer und die ersten der ihnen nachfolgenden Generation X.

Dagegen sind es vor allem jene, die damals noch nicht etabliert waren, die noch neue Jobs, Städte, Freundeskreise ausprobierten, die die Bilder zwar für ikonisch halten, aber eben auch für sehr „von damals“.

Entwicklungen lassen sich schlechter erinnern

Die Über-50-Jährigen hingegen halten eine andere 20-Jahre-Spanne für geradezu episch: die zwischen Kriegsende 1945 und ihren Geburtsjahren. Kann man wirklich so nah, wie einem heute 9/11 vorkommt, an den schwarz-weiß illustrierten Nazi-Terrorjahren aus dem Geschichtsbuch zur Welt gekommen sein? Hatte man sich von denen nicht viel weiter entfernt gewähnt?

Womöglich liegt dieser gefühlte Abstand daran, dass die Erinnerung an Nazi- Deutschland von den damals schon Älteren gemieden wurde. Und Aufbaujahre, Wirtschaftswunder, Emanzipationsbewegungen können ihnen erinnerungspsychologisch Anlässe gegeben haben, das Vergangene wegzusortieren. Zugleich waren das alles Entwicklungen ohne Knalleffekt – der beim Erinnern hilft.

Wie sehr, zeigen zwei Revolutionen der vergangenen 20 Jahre, die gleichsam herbeigeschlichen kamen, wenn auch mit gigantischen Folgen: Globalisierung und Digitalisierung. Wie soll man an die erinnern? Ironischerweise ist aber gerade die digitale Allgegenwart von fast allem, die das Web 2.0 brachte, problematisch fürs Erinnern. Es fehlt an Ereignishaftung. So gesehen sind die Bilder der brennenden Twin Towers von vor 20 Jahren vielleicht die letzten Erinnerungen dieser Art.

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