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Radfahrer gegen Berufspendler ausspielen.

© imago images / Dirk Sattler

Studie zur politischen Kultur: Berlin bleibt anders

Wie gehen wir in der Stadt heute miteinander um? Laut einer Studie des Senats haben die Berliner davon eine klare Vorstellung. Ein Kommentar.

Berlin – das ist dieser Ort, dem die Geschichte in unregelmäßigen Abständen derart in den Hintern tritt, dass er sich komplett neu erfinden muss. Die Stadt sei dazu verdammt, immer zu werden und niemals zu sein, schrieb der Kunstkritiker Karl Scheffler 1910 ohne die geringste Ahnung, was da an Belegen für diese Erkenntnis erst noch kommen würde. Wir sind heute lakonischer: Bleibt alles anders.

Wie gehen wir in der Stadt heute miteinander um? Die Universität Leipzig und die Hochschule Magdeburg-Stendal haben dazu am gestrigen Mittwoch eine Studie zur „Politischen Kultur und Partizipation“ vorgelegt, die insgesamt ein eher beruhigendes Bild vermittelt, wenngleich das Vertrauen in die Politik geschwächt scheint – gerade in Berlin derzeit alles andere als überraschend.

Es gebe in der Stadt ein hohes Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement, heißt es darin, die Ablehnung diktatorischer Regierungsformen sei stabil hoch, gering dagegen der Anteil jener, die zu gruppenbezogener Diskriminierung neigen. Andererseits sind Erfahrungen eigener Diskriminierung wegen Geschlecht oder Herkunft ziemlich weit verbreitet – hier sehen die Forscher ein Risiko, und sie weisen auch explizit auf den „israelbezogenen Antisemitismus hin“, der bei muslimischen und migrantischen Berlinern klar höher sei.

Das ist nicht selbstverständlich, bedenkt man, was der Stadt passiert ist seit 1989. Da sind, natürlich, die Narben der Wiedervereinigung, die immer noch von beiden Seiten liebevoll gepflegt werden. Aus der einen demokratischen Hälfte am Subventionstropf und der anderen fast ebenso abgeschotteten DDR-Halbstadt ist ein ausgewildertes, vom Sturm der Globalisierung durchgerütteltes Gebilde geworden, dessen Bewohner mit Ost-Biografie das Grundvertrauen in die Politik oft nie gewonnen haben; viele Westler sind gerade dabei, es zu verlieren. Auf diesen Trend weist die Studie hin.

Wer ein paar Jahre durchhält, gehört dazu

Berlin hat allerhand durchgemacht, auf Euphorie folgte immer die Ernüchterung. Nach der Wende flossen weder Milch noch Honig; der ersehnte Regierungsumzug kam erst nicht, dann kam er doch, brachte aber keine fühlbare Verbesserung. Später blühte der mystische Glaube an die Kraft des Millenniums, aber statt des Wunders brach eine Zeit der Lähmung an, in der viele Wohnhäuser abgerissen und noch mehr in höchster Finanznot verscherbelt wurden, ein Sündenfall in bester Absicht.

Erst seit dem „Sommermärchen“ der WM 2006 zeigen alle Indikatoren nach oben. Aber mit den Folgen kommt die Stadt nun auch wieder nicht zurecht, nicht mit den Myriaden von Rollkofferbesitzern und nicht mit den steigenden Mieten und allen anderen Lasten, die eine echte Metropole für ihre Einwohner bereithält. Und wenn dann immer mehr neue Nachbarn von draußen kommen, egal ob aus Kiel, Lissabon oder Marrakesch, dann wird die Stadt vielen, gerade älteren Eingeborenen zunehmend fremd.

Das ist heute anders als bei den „Gastarbeitern“ der West-Wirtschaftswunderzeit oder den vietnamesischen Handlangern, die in Ost-Berlin sorgfältig verborgen wurden. Damit kamen alle irgendwie zurecht und blieben unter sich in Ost und West. Heute aber gilt: Wer noch „echter Berliner“ ist, also mindestens vor Jahrzehnten in der Stadt geboren wurde, der darf sich der Bewunderung der Zugezogenen sicher sein – mehr bekommt er dafür aber nicht, es existiert kein bürgerlicher Adel, der seinen Einfluss von den Urgroßeltern geerbt hätte. Wer ein paar Jahre durchhält und sich die Sprache halbwegs aneignet, der gehört dazu. Gut an sich, aber immer unbequemer für alle, die das Ausharren schon als Verdienst nehmen.

Ein stabiles Wir-Gefühl wird also nicht von allein zurückkehren. Und die gegenwärtige Klientelpolitik einer zerstrittenen Koalition, die Eigentümer gegen Mieter, Eltern gegen Lehrer und Innenstadtradler gegen Berufspendler ausspielt, wirkt angesichts der großen Herausforderungen hilflos. Aber bitte: Das ist Berlin. Hier bleibt sowieso alles anders.

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