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Beim Zentralverband des Deutschen Handwerks stößt die geplante Dienstleistungskarte auf heftige Kritik.

© epd

Streit um EU-Dienstleistungskarte: Handwerker befürchten Sozialdumping

Brüssel will das Geschäft für grenzüberschreitende Dienstleister vereinfachen. Handwerker und freie Berufe laufen gegen die Neuregelung Sturm.

Luc Hendrickx wird deutlich, wenn es um ein Projekt der EU-Kommission geht, das den Unmut von kleinen und mittleren Unternehmen heraufbeschworen hat. „Ich habe den Vorschlag der Kommission bis heute nicht verstanden“, sagt Hendrickx, der im europäischen Dachverband Union Européenne de l’Artisanat et des Petites et Moyennes Entreprises (UEAPME) in Brüssel arbeitet.

Der Vorschlag, um den es geht, ist die elektronische europäische Dienstleistungskarte. Aus der Sicht der Kommission soll die Karte Dienstleistern – etwa Ingenieurbüros oder IT-Beratern – das grenzüberschreitende Geschäft erleichtern. Hendrickx kann dem Vorhaben aber nichts Gutes abgewinnen. „Die elektronische Dienstleistungskarte wird zu mehr Sozialdumping führen“, lautet sein Urteil.

Hendrickx’ Dachverband vertritt zwölf Millionen kleine und mittlere Unternehmen, die europaweit 55 Millionen Menschen beschäftigen. Auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) gehört zu den Mitgliedern. Was Hendrickx und zahlreiche Interessenvertreter auf den Plan ruft, ist ein vereinfachtes elektronisches Verfahren.

Ein Elektroinstallateur aus Prag soll beispielsweise künftig die Möglichkeit haben, an einer zentralen Stelle in seinem Heimatland seine Qualifikation online nachzuweisen, bevor er seine Dienste im EU-Ausland anbietet. Anschließend kann er sich mit der – auf Tschechisch verfassten – elektronischen Dienstleistungskarte in Sachsen niederlassen. Kritiker wenden ein, dass den deutschen Behörden in dem Verfahren nur sehr kurze Fristen bleiben, um die auf der E-Karte angegebene Qualifikation zu überprüfen.

Wirtschaftsministerium sorgt sich um die "bewährten Sozialstandards"

Der Widerstand gegen die Dienstleistungskarte hat sich längst formiert. Im vergangenen Jahr unterstützte der DGB eine Protestkundgebung europäischer Gewerkschaften in Brüssel gegen das Digital-Zertifikat. Im Wirtschaftsministerium wird befürchtet, dass mit der Dienstleistungskarte die faktische Einführung des sogenannten Herkunftslandprinzips droht, wonach auch für Niederlassungen in Deutschland die Gesetzesvorgaben des Mitgliedstaates gelten, aus dem der Dienstleister kommt. „Dies lehnt die Bundesregierung ab, denn unser Ziel ist es, auch künftig die bewährten Sozialstandards in unserem Land und die Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten vor Ort effektiv gewährleisten zu können“, heißt es in einer Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums.

Und auch im Gesetzgebungsprozess hakt es: Seit Monaten stocken die Verhandlungen unter den Mitgliedstaaten. Im Europaparlament lehnen ebenfalls zahlreiche Parlamentarier das Vorhaben ab. Die SPD-Frau Evelyne Gebhardt kritisiert, dass die umstrittene Karte zur „Untergrabung von Qualitäts- und Leistungsstandards“ führe. Die E-Karte habe „keinen Mehrwert, trägt die Gefahr von Sozialdumping und ist zudem qualitativ schlicht schlecht“, sagt sie. Bei der CDU gibt es ebenfalls Bedenken: „Wir fördern den Binnenmarkt nicht, indem wir immer neue Strukturen schaffen, statt die bereits existierenden zu verbessern“, mahnt Andreas Schwab.

Im Kern geht es beim Streit um die Karte um die zunehmenden Spannungen zwischen Ost- und Westeuropäern. Schon seit mehreren Jahren wird eine Konfliktlinie zwischen den „alten“ Mitgliedstaaten der EU und den 2004 neu hinzugekommenen Ländern immer deutlicher: In den neuen Mitgliedstaaten gilt die Dienstleistungsfreiheit als ein Bereich, in dem sie über den Preis mit den Anbietern aus den „alten“ Mitgliedstaaten konkurrieren können. Die wiederum wehren sich mit zunehmender Vehemenz gegen Sozialdumping – wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der Veränderungen an der EU-Entsenderichtlinie zulasten der Anbieter aus dem Osten durchsetzen will.

Mit dem Brexit schrumpft das Deregulierungs-Lager

Hinzu kommt: Neben den Osteuropäern und den Skandinaviern, die weniger auf ein dichtes Regelwerk bei Berufszugängen und Qualifikation setzen als die Deutschen, galten die Briten über viele Jahre hinweg als Befürworter der Deregulierung. Mit dem Brexit dürfte das Lager der Deregulierungs-Freunde unter den Mitgliedstaaten kleiner werden.

Die elektronische Dienstleistungskarte gilt in Brüssel ohnehin nicht als „Gewinnerthema“. Im vergangenen Halbjahr mühte sich der estnische EU-Vorsitz ergebnislos mit der Kompromisssuche ab. Die gegenwärtige bulgarische Präsidentschaft, die bis Ende Juni die EU-Geschäfte führt, hat wiederum den Fokus auf die Industriepolitik gelegt. Kleine und mittlere Unternehmen, die von der E-Karte in erster Linie betroffen wären, stehen weniger im Blickpunkt Sofias. Beobachter halten es deshalb nicht für ausgeschlossen, dass das Projekt der Dienstleistungskarte demnächst ganz in der Versenkung verschwindet.

Bei zwei anderen Dienstleistungs-Dossiers gehen die Beratungen weiter

Anders verhält es sich mit zwei weiteren Dossiers, welche die Kommission vor einem Jahr neben der E-Karte im Rahmen eines sogenannten Dienstleistungspaketes vorstellte. Dabei geht es zum einen um einen Vorschlag, mit dem das bisherige Meldeverfahren, das die Mitgliedstaaten bei Änderungen der Rechtsvorschriften im Dienstleistungsbereich gegenüber der Kommission einhalten müssen, strikter gehandhabt werden soll. Der Entwurf der sogenannten Notifizierungsrichtlinie sieht vor, dass ein Mitgliedstaat der Kommission rechtzeitig eine Mitteilung machen muss, wenn beispielsweise die Zugangsregeln für den Architektenberuf geändert werden sollen. Falls die Kommission darin einen Verstoß gegen die EU-weite Dienstleistungsfreiheit erblicken sollte, könnte in dem betreffenden Mitgliedstaat während einer Stillhaltefrist die Neuregelung nicht in Kraft treten.

Als die Kommission vor einem Jahr die Vorschläge zur weiteren Öffnung des Binnenmarktes vorstellte, pries der Finne Jyrki Katainen die Novelle als einen „neuen und moderneren Weg“. Der Vizepräsident der Kommission sprach davon, dass eine bessere Nutzung des Binnenmarktes zu mehr Jobs führen werde.

Subsidiaritätsrüge von Bundestag und Bundesrat blieb ohne Erfolg

Doch der Bundestag und der Bundesrat waren damit nicht einverstanden. Zwei Monate nach der Präsentation in Brüssel erhoben das Parlament und die Länderkammer eine sogenannte Subsidiaritätsrüge gegen das Dienstleistungspaket. Zur Begründung hieß es, dass die Kommission ihre Kompetenzen überschreite. Bundestag und Bundesrat sahen in den Vorschlägen einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip sieht vor, dass Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden – und nicht zwangsläufig auf EU-Ebene. Doch mit ihrer Sicht setzten sich Bundestag und Bundesrat nicht durch; die Rüge scheiterte an der mangelnden Unterstützung durch weitere nationale Parlamente.

Weil die EU-Kommission seinerzeit nicht zum Einlenken gezwungen war, geht die Brüsseler Gesetzgebung, mit der das Notifizierungsverfahren zur Meldung neuer Berufsvorschriften verschärft wird, jetzt in die nächste Runde. Jetzt soll die erste Verhandlungsrunde im sogenannten Trilog zwischen EU-Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten stattfinden. Es gibt großen Verhandlungsbedarf zwischen den drei Institutionen: Während das Europaparlament das Recht der Kommission stärken will, strittige Neuregelungen beim Berufszugang zu stoppen, verfolgen die Mitgliedstaaten eine weniger strikte Linie. Trotz der Bedenken aus Deutschland gegen die Notifizierungsrichtlinie gehen Beobachter aber davon aus, dass die Neuregelung kommt.

Bundesverband Freier Berufe sieht keinen Mehrwert

Dies gilt auch für den zweiten Richtlinienentwurf, bei dem in dieser Woche der Trilog starten soll. Hier geht es um die sogenannte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Sie sieht vor, dass neue Regelungen zur Berufszulassung künftig nach einem EU-Kriterienkatalog auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüft werden sollen. Der Bundesverbandes der Freien Berufe (BFB), in dem unter anderem Bauingenieure, Architekten oder Rechtsanwälte organisiert sind, hält dies für überflüssig, da die von Brüssel geforderte Prüfung hierzulande aus Verfassungsgründen ohnehin bereits stattfindet.

„Das Verfahren wäre mit erheblichem Aufwand verbunden“, sagt BFB-Präsident Wolfgang Ewer. Nach seiner Ansicht würde die Prüfung keinen Mehrwert, dafür aber mehr Bürokratie bringen. Ewer hat zudem noch ein grundsätzliches Problem mit der Binnenmarktstrategie der Kommission: „In der Kommission herrscht der Glaube vor, dass der Preis einer Leistung entscheidend ist. Aber die Qualität ist mindestens genauso wichtig wie der Preis.“

Dieser Text erschien am 30. Januar 2018 in der "Agenda", einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint.

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