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Das Logo der Tageszeitung "taz" ist am Eingang des Redaktionsgebäudes in Berlin-Mitte zu sehen.

© Sven Braun/dpa

Streit um die Polizei-in-den-Müll-Kolumne: Geschlecht und Hautfarbe sind noch kein Argument

Urteilen Betroffene wahrheitsgetreuer über Diskriminierungen als Nicht-Betroffene? Die Müll-Kolumne in der „taz“ berührt Grundsätzliches. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Die 45. Episode der Sitcom „Friends“ wurde vor 18 Jahren ausgestrahlt. Rachel ist schwanger und leidet unter Braxton-Hicks-Wehen. Ross, der Vater ihres Kindes, lacht und sagt, das sei „no big deal“, keine große Sache. Rachel kontert: „No uterus, no opinion!“ (Keine Gebärmutter, keine Meinung). Im folgenden soll dies, in Anlehnung an Rachels Einwand, das Nuno-Argument heißen. Im Kern besagt es, dass sich Nicht-Betroffene zu einem Problem nicht äußern sollten. Vorgebracht wird es in der Abtreibungs-, Sexismus- und Rassismus-Debatte.
Vor zwei Wochen erschien in der „tageszeitung“ eine angeblich satirisch gemeinte Kolumne unter der Überschrift „All cops are berufsunfähig“. Die Autorin, Hengameh Yaghoobifarah, empfahl darin, Polizisten auf der Mülldeponie zu entsorgen. Es hagelte Strafanzeigen, beim Presserat gingen Beschwerden ein. Doch die Meinungs- und Pressefreiheit ist in Deutschland ein hohes Gut. Strafrechtlich relevant dürfte der Text eher nicht sein.
Bei der „tageszeitung“ indes ist seit Veröffentlichung des Textes die wilde Wutz los. Kritiker und Befürworter der Kolumne liefern sich ein offenes Gefecht. Im Zentrum steht auch das Nuno-Argument. Die Geschäftsführerin, Aline Lüllmann, schrieb in einem Tweet, sie hätte sich „gewünscht, dass all die White Privilege People“ nichts zu der Kolumne gesagt hätten. „Den Diskurs sollten diejenigen führen, die wirklich etwas zu struktureller Diskriminierung zu sagen haben.“

Alle Menschen sind biographisch geprägt

Nun ist unbestreitbar, dass alle Menschen – auch Journalisten – biographisch geprägt sind. Sie sind Mann oder Frau, weiß oder schwarz, stammen aus armen oder reichen Verhältnissen, sind im Osten oder Westen sozialisiert worden, gehen in die Kirche – oder eben nicht. Das beeinflusst ihre Ansichten und Haltungen. Doch daraus einerseits Schweigegebote abzuleiten (das Nuno-Argument) oder besondere Diskurs-Gewichtungen (nach dem Motto: eine arme, schwarze Frau urteilt per se wahrheitsgetreuer über Rassismus als ein reicher, weißer Mann), wäre verkehrt.

In voraufklärerischen Zeiten diktierten Monarchen und Kleriker die Meinungsbildung. Die Aufklärer setzten dieser Macht die Einsicht in Vernunftgründe entgegen. Sapere aude: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen (Immanuel Kant). Wenn jetzt nicht mehr die Ratio, sondern die eigene Betroffenheit zum Maßstab für richtig und falsch gemacht wird, soll aus individuellem Erfahrungswissen eine autonome Überzeugungskraft abgeleitet werden. Wenn aber nicht mehr alle über alles öffentlich mitreden dürfen, sind Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit in Gefahr.

Eine Gesellschaft funktioniert nur als Ganzes

Nicht nur Richter wissen, dass Betroffenheit das Urteilsvermögen auch trüben kann. Von einer Sache stark bestimmt zu sein, kann Menschen befangen machen. Dürfen Wessis über die DDR reden, Nicht-Juden über Antisemitismus, Heterosexuelle über die Ehe für alle, Kinderlose über Erziehungsfragen? Natürlich dürfen sie. Eine Gesellschaft funktioniert nur als Ganzes. Biographische Prägungen dürfen kein Vorwand dafür sein, missliebige Ansichten zu diskreditieren.
Hier schreibt ein alter, weißer Mann, der nicht ausschließt, dass in sein Urteil just diese Faktoren einfließen. Das darf, das muss reflektiert werden. Wenn eine solche Reflektion aber die inhaltliche Auseinandersetzung verdrängt, statt ergänzt, stirbt der Streit um das bessere Argument.

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