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Zu Beginn der Plenarsitzung nahm neben Bundestagspräsident Norbert Lammert (links, CDU) der Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu (Bündnis 90/Die Grünen) Platz.

© Kay Nietfeld/dpa

Update

Streit um Armenien-Resolution: Schulz und Lammert weisen Erdogan scharf zurecht

"Absoluter Tabubruch": EU-Parlamentschef Martin Schulz hat den türkischen Präsidenten in einem Brandbrief kritisiert. Bundestagspräsident Lammert bekam für seine Schelte Beifall der Kanzlerin.

Immer wieder hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen Tagen die Armenien-Resolution des Bundestags kritisiert, in der die Gewalt an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord eingestuft wird. Erdogan hatte türkischstämmige Abgeordnete im Bundestag als verlängerten Arm der verbotenen kurdischen PKK bezeichnet, ihre türkische Herkunft angezweifelt und sogar einen Bluttest gefordert.

Nun droht der Streit weiter zu eskalieren: Eine Gruppe türkischer Abgeordneter habe die elf türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten, die für die Resolution gestimmt hatten, wegen "Beleidigung des Türkentums und des türkischen Staates" angezeigt, meldete die Zeitung "Hürriyet" am Donnerstag. Laut "Hürriyet" fordern die türkischen Abgeordneten, die sich selbst Kampfverband für Gerechtigkeit nennen, Ermittlungen der türkischen Staatsanwaltschaft gegen die deutschen Abgeordneten. Ob ein Verfahren eröffnet wird, ist nicht klar. Eine Beleidigung des türkischen Staates kann mit Gefängnis bestraft werden.

Am Donnerstagvormittag hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zu Beginn der Plenarsitzung die Äußerungen Erdogans entschieden verurteilt. Auch der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), kritisierte Erdogan in einem Brief für seine Drohungen scharf.

Lammert wies die Angriffe des türkischen Staatspräsidenten auf türkischstämmige Abgeordnete am Donnerstag mit deutlichen Worten zurück. "Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten", sagte er. "Die Verdächtigung von Mitgliedern dieses Parlamentes als Sprachrohr von Terroristen weise ich in aller Form zurück." Lammert sagte weiter: "Die zum Teil hasserfüllten Drohungen und Schmähungen sind leider auch durch Äußerungen hochrangiger türkischer Politiker befördert worden." Kanzlerin Angela Merkel bedachte die scharfe Kritik von Lammert mit demonstrativem Beifall. Es ist im Parlament unüblich, auf der Regierungsbank zu klatschen.

"Wir stellen uns jeder Kritik, und wir ertragen auch persönliche Angriffe und Polemik", sagte Lammert. "Doch jeder, der durch Drohungen Druck auf einzelne Abgeordnete auszuüben versucht, muss wissen: Er greift das ganze Parlament an." EU-Parlamentspräsident Martin Schulz schrieb in einem Brandbrief an Erdogan: "Ein solches Vorgehen stellt einen absoluten Tabubruch dar, den ich aufs Schärfste verurteile."

Erdogan hat den Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir unterdessen erneut scharf angegriffen. Er warf Özdemir vor, "charakterlos" zu sein, ohne den Grünen-Chef beim Namen zu nennen. In einer Ansprache vor Dorfvorstehern am Mittwochabend in Ankara umschrieb der Staatschef den türkischstämmigen Özdemir als "den Mann, der in Deutschland sein eigenes Land des Völkermordes beschuldigt und bei so einer Entscheidung die führende Rolle spielt". Erdogan fügte hinzu: "Ich frage, was ist er, wenn nicht charakterlos?" Özdemir gehörte zu den Initiatoren der Bundestagsresolution zu den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich.

Lammert fordert Solidarität der Türken in Deutschland

Die Armenier-Resolution, die vor einer Woche fast einstimmig verabschiedet worden war, hatte heftige Reaktionen in der Türkei ausgelöst. Bei den Massakern durch das Osmanische Reich waren im Ersten Weltkrieg bis zu 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen.

Lammert sagte, die Türkische Gemeinde Deutschlands und der Türkische Bund Berlin-Brandenburg hätten die Schmähungen gegen Abgeordnete zurecht als abscheulich und inakzeptabel kritisiert. "Ich würde mir wünschen, dass auch andere der zum Teil sehr großen türkischen Organisationen in Deutschland ebenso Partei für die Abgeordneten und unsere Demokratie ergreifen - mit ähnlich klaren und eindeutigen Stellungnahmen, wie sie bei anderen Gelegenheiten häufig sehr schnell und sehr lautstark abgegeben werden." Ursprünglich hatte die Linksfraktion wegen der Attacken Erdogans für Donnerstag eine Aktuelle Stunde im Parlament beantragt. Angesichts der klaren Worte Lammerts zog die Fraktion den Antrag kurzfristig zurück. Die Debatte wurde abgesetzt.

Schulz: "Parlamentarier in Nähe von Terroristen gerückt"

Über den Brief des EU-Parlamentspräsidenten berichtete "Spiegel online". "Parlamentarier, die sich im Rahmen ihres Mandats positionieren, dürfen unbeschadet etwaiger Meinungsverschiedenheiten in einer politischen Frage keinesfalls in die Nähe von Terroristen gerückt werden", heißt es demnach in dem Schreiben von Schulz an Erdogan, der nach Angaben des Blattes am Freitagvormittag verschickt werden soll.

Schulz kritisiert dem Magazin zufolge die Verbalattacken Erdogans gegen Parlamentarier des Bundestags. "Mit großer Sorge habe ich die Berichte zur Kenntnis genommen, dass Sie frei gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestags für Ihr Abstimmungsverhalten verbal scharf angegriffen und mit Vorwürfen konfrontiert haben." Weiter heißt es darin demnach: "Als Präsident eines multinationalen, multiethnischen und multireligiösen Parlaments gestatten Sie mir folgenden Hinweis: die freie Mandatsausübung von Abgeordneten ist ein entscheidender Grundpfeiler unserer europäischen Demokratien."

Martin Schulz stellt sich vor die Parlamentarier

Schulz stellt den Angaben zufolge in seinem Schreiben vor die bedrohten Parlamentarier. "Eine Reihe der von Ihnen persönlich angegriffenen Kollegen des Deutschen Bundestags, aber auch Mitglieder des türkischen Parlaments, die von Maßnahmen, die Sie unterstützen, betroffen sind, zählen zu meinen langjährigen Kollegen und stehen mir zum Teil auch persönlich sehr nahe. Ich fühle mich verpflichtet, diese Kolleginnen und Kollegen, wo es mir möglich ist, zu schützen."

Martin Schulz hat genug von den Verbalattacken des türkischen Präsidenten.
Martin Schulz hat genug von den Verbalattacken des türkischen Präsidenten.

© dpa

Am Dienstag hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Angriffe Erdogans gegen Bundestagsabgeordnete zurückgewiesen. "Die Vorwürfe und die Aussagen, die da jetzt gemacht werden von der türkischen Seite, halte ich für nicht nachvollziehbar", sagte Merkel in Berlin. "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags sind frei gewählte Abgeordnete ausnahmslos." Es gebe unterschiedliche Sichtweisen zwischen der Mehrheit des Bundestags und der Türkei.

Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth von den Grünen warf Erdogan vor, "offene Hetze" gegen deutsche Abgeordnete zu betreiben. Sie forderte Merkel auf, bei Erdogan offiziell gegen dessen Vorwürfe zu protestieren. "Die Kanzlerin muss jetzt klar Stellung beziehen. Was Erdogan macht, verstößt gegen alle Gepflogenheiten", sagte Roth. "Das darf man ihm nicht durchgehen lassen."

FDP-Europaabgeordneter Lambsdorff für Beendigung der EU-Beitrittsverhandlungen

Angesichts der Verbalattacken Erdogans auf türkischstämmige Parlamentarier im Bundestag und der Aufhebung der Immunität von Abgeordneten im Parlament in Ankara hat der stellvertretende EU-Parlamentspräsident Alexander Graf Lambsdorff eine Beendigung der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei gefordert. „Die Türkei ist von europäischen Werten weiter entfernt als je zuvor“, sagte Lambsdorff dem Tagesspiegel zur Begründung. Die „zombiehaften“ Beitrittsgespräche müssten nach den Worten des FDP-Politikers durch eine gemeinsame „positive Agenda“ der EU und der Türkei ersetzt werden, auf der Themen wie der Umgang mit Flüchtlingen behandelt werden könnten.

Der Vorsitzende des Europaausschusses des Bundestages, Gunther Krichbaum (CDU), sprach sich dagegen für eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit Ankara aus. „Irgendwann wird Erdogan nicht mehr Präsident sein“, sagte Krichbaum. Zwar werde die Türkei in den nächsten Jahren nicht beitrittsreif sein, aber dennoch sei nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in dem Staat am Bosporus durchsetzten, sagte er. (mit dpa, AFP)

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