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Ein Mann hält bei einer Demonstration in Chabarowsk ein Plakat mit einem Porträt von Alexej Nawalny.

© Igor Volkov/dpa

Stimmungstest nach Vergiftung Nawalnys: Klug wählen gegen den Kreml

Weder Putin noch Nawalny stehen bei der Regionalwahl in Russland an diesem Wochenende auf dem Stimmzettel. Trotzdem ist sie für beide ausgesprochen wichtig.

Von Oliver Bilger

Alexej Nawalny war auf der Rückreise von einer Wahlkampftour, als auf dem Flug nach Moskau das Gift in seinem Körper zu wirken begann. Seine Unterstützer glauben, dass der Giftanschlag dazu diente, ihn vor den russischen Regionalwahlen aus dem Verkehr zu ziehen.

Seit Freitag und bis Sonntag sind weite Teile Russlands aufgerufen, Gouverneure, regionale Parlamente, Stadträte und Bürgermeister zu bestimmen. Mit ersten aussagekräftigen Ergebnissen wird am Montag gerechnet.

Nawalny selbst steht nicht zur Wahl und auch andere unabhängige Oppositionelle haben es meist schwer, zu Abstimmungen zugelassen zu werden. Es dominiert die Kremlpartei Einiges Russland. Dennoch haben Nawalny und seine Anhänger Einfluss auf die Wahlen.

„Die Nervosität steigt“, schreibt der Kolumnist Fjodor Krascheninnikow im Nachrichtenmagazin „Republic“. „Allen Anzeichen nach ist die politische Führung des Landes besorgt um die Ergebnisse am Wahltag.“

Der Kreml will die Kontrolle über die Politik in den Regionen behalten. Stichwahlen seien keine Tragödie, hatte Kremlsprecher Dmitri Peskow vor Kurzem verkündet, tatsächlich will Moskau Überraschungen bei den Regionalwahlen aber vermeiden.

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Generalprobe für die Parlamentswahl

Sie gelten als Generalprobe für die Parlamentswahl im kommenden Jahr – sind somit ein wichtiger Stimmungstest für die Regierungspartei und für Präsident Wladimir Putin. Es ist die erste Abstimmung nach der umstrittenen Verfassungsreform, die Putin mehr Macht verleiht und seinen Verbleib im Kreml bis 2036 ermöglicht.

Das zunächst zögerliche Vorgehen der Staatsführung gegen die Coronakrise dürfte ebenso eine Rolle spielen wie Wirtschaftskrise und steigende Arbeitslosigkeit. Die Unzufriedenheit wächst, vor allem in den abgelegenen und von Moskau vernachlässigten Regionen.

Ein Wahlplakat der Regierungspartei Einiges Russland in Nowosibirsk. Moskau ist auch in den Regionen auf Kontrolle bedacht. 
Ein Wahlplakat der Regierungspartei Einiges Russland in Nowosibirsk. Moskau ist auch in den Regionen auf Kontrolle bedacht. 

© Alexander NEMENOV

Der Rückhalt der Kremlpartei liegt in unabhängigen Umfragen bei nur knapp 30 Prozent. Auch Präsident Putin hat zuletzt an Unterstützung verloren.

Weil Nawalny selbst keine Chance hat, bei Wahlen anzutreten, hat er sich eine andere Strategie ausgedacht: Sein Ziel ist es, den Erfolg der Vertreter der Regierungspartei zu verhindern. Dafür rufen er und seine Mitstreiter schon seit Längerem die Wähler auf, für Vertreter der zugelassenen Oppositionsparteien zu stimmen.

Das sind oft Politiker der Kommunisten oder der nationalistischen LDPR. Sie gelten als sogenannte Systemopposition, die den Anschein von politischem Wettbewerb erwecken soll, in Wirklichkeit aber meist kein unabhängiges Gegengewicht zur Regierung ist.

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Erfolg für Nawalnys Taktik

In der Duma stimmt auch die Opposition für gewöhnlich regierungstreu. Fernab von Moskau setzen diese Kandidaten indes mitunter eigene politische Akzente – nicht immer zum Gefallen Moskaus. Nawalny will deshalb per Protestwahl das Machtmonopol des Kremls in den Regionen brechen und jenen Kandidaten, die er für Korruption und Machtmissbrauch kritisiert, Stimmen abjagen.

„Kluge Abstimmung“ nennt Nawalny seine Wahltaktik. Eine eigene „Smart Voting App“ und eine Webseite wurden von Nawalny gestartet – wahlkreisbezogen gibt diese Empfehlungen, welche Oppositionskandidaten die besten Chancen haben, die Vertreter der Regierungspartei zu verdrängen.

Im vergangenen Jahr hatte er damit in Moskau beachtlichen Erfolg, nachdem unabhängige Oppositionelle nicht zugelassen worden waren. Am Ende der „klugen“ Abstimmung holten Bewerber ohne Kreml-Rückhalt fast die Hälfte der insgesamt 45 Sitze und brachten einigen lokalen Parteigrößen unerwartete Niederlagen bei.

Risse im System sind für Andrej Kolesnikow, Innenpolitikexperte am Moskauer Thinktank Carnegie-Zentrum, mehr als deutlich. Dass in Chabarowsk, ganz im Osten des Riesenlandes, seit Wochen Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Verhaftung ihres Gouverneurs Sergej Furgal zu demonstrieren, ist für Kolesnikow ein Zeichen, dass die bislang unorganisierte Zivilgesellschaft sich derzeit schnell politisiert, zunehmend auch gegen Putin.

Demonstrationen für den verhafteten Gouverneur

Der LDPR-Politiker Furgal wurde vor zwei Jahren in einer Protestwahl zum Gouverneur gewählt. Nun ermitteln die Behörden gegen ihn wegen angeblicher Beteiligung an Auftragsmorden vor 15 Jahren. Furgal bestreitet das und hält das Verfahren für politisch motiviert. Die Menschen in Chabarowsk demonstrieren nicht nur für ihren Gouverneur, sie richten sich auch gegen den Einfluss Moskaus auf die lokale Politik.

Im Fernen Osten Russlands demonstrieren Menschen gegen die Verhaftung wegen angeblichen Mordes von Gouverneur Furgal.
Im Fernen Osten Russlands demonstrieren Menschen gegen die Verhaftung wegen angeblichen Mordes von Gouverneur Furgal.

© REUTERS

„Putins Bande muss vor Gericht“ und „Putin hat unseren Gouverneur gestohlen“, skandierten die Unzufriedenen bei Demonstrationen. Fast die Hälfte aller Russen unterstützt Umfragen zufolge diese Proteste.

Für diejenigen, so Kolesnikow, die noch nicht politisiert wurden, könne bei den Regionalwahlen Nawalnys Taktik ein Mittel sein, „um sich für seine Vergiftung zu rächen“. Es gebe wachsendes Potenzial für Protestwahlen und Demonstrationen. „Wenn nicht bei diesen Wahlen, dann bei den nächsten. Wenn nicht in der Stadt, in der Proteste erwartet werden, dann in einer anderen.“

„Wir wollen mehr Regionen wie Chabarowsk“, erklärt auch Wladimir Milow, ein enger Mitstreiter von Nawalny, in der „Financial Times“. Gemeint sind Überraschungssiege und ein Aufstand der Bürger. Chabarowsk gilt als Beispiel, dass kluges Wählen funktionieren kann. „Kluges Wählen“, sagt Milow, sei wahrscheinlich „die größte Sorge des Kremls“.

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