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Anhänger von US-Präsident Trump protestieren gegen die Abstimmung im Bundesstaat Nevada

© John Locher/AP/picture alliance/dpa

Stimmenauszählung in den USA: Chaos? Amerikas Demokratie funktioniert!

Die Aufregung um das angebliche Scheitern der Institutionen ist übertrieben. Die Abläufe sollten das Vertrauen in die Regeln stärken. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Bitte mehr Geduld! Es deutet sehr viel darauf hin, dass Joe Biden der 46. Präsident der USA wird. Aber er ist es erst, wenn die Stimmen zweifelsfrei ausgezählt sind.

In der Nacht hat er die Auszählung in Michigan und Wisconsin gewonnen. Über kurz oder lang könnten auch seine Siege in Arizona und Nevada feststehen. Dann hätte er die 270 Wahlmännerstimmen erreicht, die er für den Einzug ins Weiße Haus braucht.

Zu besichtigen ist in diesen Tagen eine amerikanische Demokratie, die Vertrauen in ihre Regeln und Abläufe und die berühmten „Checks and Balances“ hat. Und in scharfem Kontrast dazu eine Tonlage in manchen US-Medien, aber mehr noch beim Blick von außen, auch in Deutschland, die beständig das Chaos und das angebliche Scheitern des amerikanischen Systems und der amerikanischen Institutionen beschwört.

Der Präsident provoziert. Mit wenig Erfolg

Was ist der Beleg für das behauptete Scheitern der amerikanischen Demokratie? Die Auszählung dauert. Und der amtierende Präsident, Donald Trump, sagt offen, er werde eine Niederlage nicht akzeptieren. Er möchte das Auszählen stoppen, spricht von Wahlbetrug, ruft Gerichte an.

Das ist in der Tat eine Provokation und ein ungeheuerliches Vorgehen. Der Präsident ist verpflichtet, die Regeln anzuerkennen und sie durchzusetzen. Es grenzt an Bruch des Amtseids, wenn er sie stattdessen unterminiert.

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Aber entscheidend für das Urteil müsste doch sein, wie dieses Ringen endet. Verloren wären die Demokratie und der Rechtsstaat nur, wenn ihre Regeln und Abläufe nicht mehr gelten. Endet der Thriller hingegen mit einem belastbaren Sieg, an dem kein vernünftiger Zweifel besteht, hätte das System seine Verlässlichkeit bewiesen.

Verlässlichkeit geht vor Schnelligkeit

Und was geschieht tatsächlich in den USA? Die Wahlkommissionen in den Kommunen und Einzelstaaten verrichten trotz des enormen Drucks unbeirrt ihre Arbeit. Sie zählen mit Sorgfalt und Geduld. Sie erklären, dass Verlässlichkeit wichtiger sei als Schnelle.

Trump mag provozieren, protestieren, Gerichte anrufen. Es ändert wenig – und, auch das sollte festgehalten werde, Trump findet kaum Unterstützung für seine undemokratischen Forderungen wie den Auszählungsstopp. Sein Vize Mike Pence sagt, es werde jede Stimme gezählt. Auch republikanische Führungsfiguren im Kongress betonen, es werde einen geordneten Machtwechsel geben, wenn Trump verliert. Es gibt einzelne Störmanöver – übrigens von Anhängern beider Seiten -, aber keine Hinweise auf eine breite Gewaltanwendung.

Der „Ballot“ (Stimmzettel) hat die „Bullet“ (die Kugel) ersetzt. Das ist der große Zivilisationsgewinn durch Demokratie und Rechtsstaat. Konflikte werden nicht durch das Recht des Stärkeren entschieden. Sie werden friedlich ausgetragen.

Warum reden so viele, als sei Amerika eine Bananenrepublik?

Warum dann diese verbreiteten Sorgen? Warum reden so viele über die USA, als seien sie eine Bananenrepublik? Woher die Annahme, dass die Verfassungsrichter, wenn sie über Einsprüche entscheiden, nicht nach Recht und Gesetz urteilen, sondern eine Trump-genehme Entscheidung fällen? Und: warum dominiert dieses Misstrauen?

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Die Sorgen sind verständlich. Trump hat beständig gegen Regeln verstoßen und gezeigt, dass er keinen Respekt vor den Institutionen hat. Dabei ist er jedoch immer wieder von den Gerichten oder vom Kongress in die Schranken gewiesen worden.

Das Misstrauen müsste nicht sein, jedenfalls nicht in so hohem Maß. Klar doch, es wäre beruhigender, wenn die Gewaltenteilung und die „Checks and Balances“ erst gar nicht in Frage gestellt würden. Aber die Erfahrung, dass sie standhalten, könnte - ja: müsste doch eigentlich das Vertrauen in sie stärken. Amerikas Verfassungsrichter haben immer wieder bewiesen, dass sie politisch unabhängig sind und unabhängig davon entscheiden, welcher Präsident und welche Partei sie ins Amt gebracht hat.

Es raucht und kracht und stinkt - weil das System funktioniert

Das erste Missverständnis: Wenn es beim Austragen der Interessenkonflikte raucht und kracht und stinkt, ist das kein Beweis, dass die Regeln nichts nützen. Es raucht und kracht und stinkt gerade dann, wenn sie nicht klaglos von allen respektiert werden, sondern gegen Regelbrecher durchgesetzt werden müssen.

Das zweite Missverständnis: Immer mehr Menschen richten ihr Urteil über das demokratische System nicht mehr daran aus, ob die Regel durchgesetzt werden. Sondern daran, ob das Ergebnis ihren Wünschen entspricht. Das gilt für die USA, aber leider auch in hohem Maße in Deutschland.

Respekt heißt: Demokratie auch dann akzeptieren, wenn man unterliegt

Um es zuzuspitzen: Wenn nach Auszählen und Überprüfen der Einsprüche zweifelsfrei feststünde, dass Trump die Wahl gewonnen hat, verlangt der Respekt vor der Demokratie, auch dieses Resultat zu akzeptieren.

Wer hingegen das Urteil über die Verlässlichkeit des Systems davon abhängig macht, ob es die Ergebnisse produziert, die den eigenen Wünschen entsprechen, oder nicht, trägt selbst dazu bei, den Respekt vor den Regeln und Institutionen zu untergraben Demokratie und Rechtsstaat leben davon, dass die Bürger ihnen vertrauen können. Aber auch davon, dass die Bürger es dann auch tun, wenn die „Checks and Balances“ ihre Verlässlichkeit beweisen.

[Erläuterung zu unseren Zahlen zur US-Wahl: Bei den Wahlentscheidungen in den einzelnen Bundesstaaten nutzen die US-Medien unterschiedliche Berechnungsmodelle, bevor sie einen Call veröffentlichen, also die Wahlleute des Staates einem Kandidaten zurechnen. Je nach der Quelle, auf die sich aktuelle Grafiken und Karten beziehen, sind die Zahlen auch in den deutschen Medien unterschiedlich. Beim Tagesspiegel nutzen wir für unsere Live-Daten Angaben der Deutschen Presse-Agentur dpa, die sich wiederum auf Zahlen des US-Senders CNN stützt.]

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