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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Steinmeier zum Mauerfall-Jubiläum: Übers gespaltene Deutschland reden, aber nicht über Migration

Bundespräsident Steinmeier setzt sein Dialogprogramm zum 30. Jahrestag des Mauerfalls fort. Das größte Spalterthema aber fehlt dabei: Zuwanderung.

Kein Budget, keine Macht - außer der Macht des Wortes. Fast eine Binse, wenn es um den Handwerkskasten des deutschen Bundespräsidenten geht. Frank-Walter Steinmeier nutzt ihn seit seinem Amtsantritt ausgiebig. Keineswegs nur in eigenen Reden und Statements, sondern auch, indem er andere reden, sie zu Wort oder auch ins Bild kommen lässt. Das Staatsoberhaupt lädt zu "Kaffeetafeln" überall im Land, sein Stab und er kreierten das Besuchsprogramm "Land in Sicht", das den hohen Besucher erklärtermaßen immer wieder in die Gegenden führt, die sich abgehängt fühlen und es nicht selten sind. Und erst kürzlich schaffte man im Schloss Bellevue Tiefenbohrungen in den deutschen Alltag, als ein gutes Dutzend Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu Gast waren. Vor einem Bundespräsidenten, der nachfragte, aber vor allem zuhörte, berichteten sie über menschenleere Gegenden, entmischte Dorf- und Stadtgesellschaften, die nicht mehr miteinander kommunizieren (können) und von Ämtern, die sich vor zunehmend sprachlosen und zugleich aggressiven Bürgern fürchten müssen.

Die erste der "Geteilten Geschichte(n) am Tag des Mauerbaus von 1961

Das setzt der Präsident zum 30. Jahrestag des Mauerfalls mit neuen Formaten fort, zu einem Zeitpunkt, so ist aus seinem Stab zu hören, da "das West-Ost-Thema womöglich präsenter ist als zum 25. Jahrestag der Einheit" vor fünf Jahren und sich für "Politik und Zusammenhalt des Landes viel verändert" habe. "Geteilte Geschichte(n)" heißt das Programm zum 30. Jahrestag. Den Gedanken dahinter habe Steinmeier bereits formuliert, als er im ZDF-Sommerinterview Ende Juni in Plauen einen neuen Solidarpakt vorschlug, "nicht den Solidarpakt der Milliarden, sondern eher einen Solidarpakt der Anerkennung, der Wertschätzung, der offenen Ohren und vielleicht auch des offenen Austauschs".

Am 13. August, an dem vor 58 Jahren die SED die Mauer zwischen beiden deutschen Staaten hochziehen ließ, soll im Schloss Bellevue in Berlin die erste von vier "Geteilte(n) Geschichten" erzählt werden, Podiumsdiskussionen zwischen jeweils zwei Menschen aus Ost und West. Den Auftakt machen - moderiert von der Schriftstellerin Marion Brasch - die Journalisten Georg Mascolo (West) und Siegbert Schefke (Ost). Mascolo begleitete die Maueröffnung im November 1989 als Reporter für Spiegel TV, Schefke filmte heimlich die entscheidende Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober, und gab sie an westliche Medien weiter, die zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr drehen durften. In den folgenden Gesprächen - darunter mit deutsch-deutschen Journalistinnen und Schriftstellerinnen wie Jana Hensel und Jana Simon, werden Antworten auf die Frage gesucht, wo "Groll und Bitterkeit" entstanden sind, und woher "die neuen Spaltungen, Polarisierungen und Mauern der vergangenen 30 Jahre" entstanden sind, "nicht nur in Ost und West, sondern auch zwischen Stadt und Land und den Generationen", heißt es im Bundespräsidialamt. Die Reihe sei ein "Angebot ans ganze Land". Den etwas bunteren Abschluss der Gespräche übernehmen zwei Sterneköche, Maria Groß (Ost) und Ali Güngörmüs (West).

Zum Schluss ein Empfang für die Visegrad-Staatspräsidenten

Ausgerechnet dem Megathema dieser Spaltung, der Migration, ist aber keiner der vier Termine von "Geteilte Geschichte(n)" gewidmet. Dabei befeuert sie nicht nur seit ein paar Jahren die Wahlerfolge der AfD und die Wut der Wutbürger. Sie ist auch statistisch Teil der von Steinmeier diagnostizierten Teilung - die weitaus meisten Menschen mit Migrationshintergrund leben in den 11 alten Bundesländern. Und schon 1989 blickten Eingewanderte und ihre Kinder im Westen mit Skepsis oder sogar Angst auf den Mauerfall - sie waren offensichtlich nicht gemeint, als auf den Straßen erst "Wir sind das Volk!" und schließlich "Wir sind ein Volk!" skandiert wurde.

Im Bundespräsidialamt verweist man auf Güngörmüs, der ja ebenfalls über seine Erfahrungen als Einwanderersohn reden werde. Und tritt dem Eindruck entgegen, dass die "offenen Ohren und der offene Austausch" für und mit denen, die sich abgehängt und ungehört fühlten, womöglich Phantomsorgen aufwerte, von denen die Rechte gut lebt. Man habe in bisherigen Gesprächsrunden gute Erfahrungen mit Konfrontation gemacht. Wenn ein migrationsfeindliche Bürgerin einem engagierten Flüchtlingshelfer begegne, würden bestimmte Aussagen schon korrigiert - "aber nicht vom Bundespräsidenten".

Den vorläufigen Abschluss seines Jubiläumsprogramms bildet ein Empfang Steinmeiers für seine Amtskollegen der vier sogenannten Visegrad-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn. "Keine friedliche Revolution ohne die Revolutionen im Osten", heißt es dazu aus dem Präsidialamt. In Polen begann bereits in den sozialen Unruhen und der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc 1980 die Emanzipation der osteuropäischen Länder von der sowjetischen Hegemonie und der Unfreiheit. Visegrad allerdings steht seit einigen Jahren für deren besonders migrationsfeindliche Haltung. In der Europäischen Union bilden die Visegrad-Staaten den Kern des Widerstands gegen eine ausgewogene Verteilung von Flüchtlingen.

"Die Wende war auch unsere Wende"

"Migranten hat die offizielle Geschichtsschreibung Deutschlands fast nie auf dem Schirm", sagt Ferda Ataman zum Festprogramm des Bundespräsidenten. Die Journalistin und Autorin ist Sprecherin der Neuen deutschen Organisationen (NdO), eines Zusammenschlusses von mehr als 100 postmigrantischen Initiativen, die sich für Vielfalt und gegen Rassismus engagieren. "Die Wende ist auch unsere Wende. Wir haben damals gefeiert, aber Migranten gehörten auch ziemlich schnell zu den Leidtragenden." Ihre aus der Türkei eingewanderte Mutter, sagt Ataman, habe 1989 geweint, weil ihr Land nun vereint war, wenige Jahre später habe sie geweint, als ein Mob in Hoyerswerda ein Heim vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen belagerte und im Westen die Häuser türkischer Einwanderer brannten. Im Gedenkjahr sieht sie ein grundsätzliches Problem wieder sichtbarer werden als sonst: Deutschland müsse endlich lernen, "sich als das zu sehen, was es wirklich ist, ein pluralistisches Einwanderungsland. Die Wiedervereinigung war nicht die von weißen Westdeutschen und weißen Ostdeutschen. Sie vereinte zwei Gesellschaften, die beide schon sehr vielfältig waren" - im Osten etwa durch vietnamesische und mosambikanische so genannte Vertragsarbeiterinnen, politische Emigranten aus Chile oder Studierende aus Senegal. "Gerade bei großen Staatsakten und Jubiläen muss das sichtbar werden."

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