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Sargfabrikanten haben Hochkonjunktur, wie hier in Barcelona.

© Pablo Miranzo/SOPA Images via ZUMA Wire/dpa

Stehen Ärzte vor einer Triage?: Wenn Leben retten sterben lassen heißt

Erschöpfung. Das Wort beschreibt die Menschen am Ende des Corona-Jahres. Und jetzt auch noch die heikle Frage: Wer soll vorrangig behandelt werden?

Die Lage ist bekannt – und bleibt unfassbar. Menschen sterben, an manchen Tagen sind es Hunderte. Tausende infizieren sich. Zehntausende trauern um Erkrankte und Verstorbene.

Die meisten Schicksale bleiben anonym. Das betrifft auch die, deren Operationen verschoben werden, und die, die in Altenheimen nicht besucht werden dürfen.

Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern stehen am Rande der Erschöpfung. So sagt man. Doch das stimmt nicht.

Die meisten stehen nicht am Rande, sondern sind bereits erschöpft. Zutiefst erschöpft. Das kennzeichnet den allgemeinen Zustand der Gesellschaft am Ende des Corona-Jahres. Die seelischen Widerstands-Ressourcen befinden sich im Reservestadium. Kinder wachsen mit dem Wort „Quarantäne“ auf.

Triage. Kein Wunder, dass dieses Wort zusätzlich elektrisiert. Es beschreibt zwar (noch) keine Realität, dafür aber eine Ahnung.

Denn aus den Infektionszahlen von heute folgen die Zahlen der übermorgen benötigten Intensivbetten, einschließlich des Pflegepersonals, das jetzt schon knapp ist. Wenn aber die Kapazitätsgrenzen überschritten werden, müssen notgedrungen Entscheidungen getroffen werden, die den Gleichheitsgrundsatz in der Individualmedizin aufheben. Wer soll vorrangig behandelt, wessen Leben vorrangig gerettet werden?

Ein Triage-Gesetz gibt es in Deutschland nicht

Ein Gesetz, das diese Frage regelt, gibt es in Deutschland nicht. Im März hatten sieben medizinische Fachgesellschaften eine Handlungsempfehlung erarbeitet. Demnach soll sich eine Priorisierung von Patienten „am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht“ orientieren. Das heißt: Einen Menschen zu retten, kann bedeuten, einen anderen sterben lassen zu müssen. Dann ist nicht mehr jedes Leben gleich viel wert.

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Es ist verständlich, dass Mediziner für solche Extremfälle Kriterien benötigen. Jede Form von persönlicher Verantwortung, gar Haftbarkeit, muss ausgeschlossen sein. Nicht durch ihre Schuld sind sie in ein Dilemma geraten, das sich schuldfrei nicht lösen lässt – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass Gewissensbisse bis hin zu späteren posttraumatischen Störungen verhindert werden können. In einer Triage müssen Güter gegeneinander abgewogen werden, die sich einer Abwägung entziehen. Menschliches Leben ist ein solches Gut. Eine Wahl zwischen falsch und vielleicht etwas weniger falsch treffen zu müssen, ist grausam.

Vor Erschöpfung aufgeben? Das ist keine Option

Bisher befanden sich Erkrankte, Angehörige und Hinterbliebene in einer Lage, die viele verzweifeln lässt. Demnächst könnten jene hinzukommen, von denen Hilfe und Rettung erwartet wird. Deren ohnehin hohes Maß an physischer Erschöpfung würde ergänzt durch psychische Belastungen, die auf die ethische Identität von Ärzten zielen. Noch ist es nur eine Ahnung, noch gibt es ausreichend Betten und Beatmungsgeräte, noch wird niemand sterben gelassen. Aber unbegründet sind Warnungen vor einer Triage nicht, die aus Kapazitätsüberschreitungen resultieren würde.

Das alles in der Adventszeit. Doch auch wer kein Christ ist, kann über die seltsame Parallelität von steigender Angst vor einer Überlastung des Gesundheitssystems und steigender Hoffnung – auf eine schnelle Eindämmung der Pandemie durch Massen-Impfungen – erstaunt sein. In der Star-Trek-Terminologie ringen die Mächte der Dunkelheit und des Lichts miteinander. Vor Erschöpfung aufgeben? Das ist keine Option.

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