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Hinter dem Balkon der Grünzug. So mag es Jenny Schon, die seit 2004 in der Wohnung wohnt. Jetzt sollen auf dem Grün neue Wohnungen gebaut werden.

© Thilo Rückeis

Städtebau Berlin / Reaktion auf Wohnungmangel: Grüner wird’s nicht . . .

. . . sondern grauer! Berlin braucht Wohnraum – und baut, wo es einfach ist: in Hinterhöfen und auf Siedlungswiesen. Nachverdichtung heißt der neue Trend. Einfach daran ist auch, dass Protest immer nur von Nachbarn kommt, also von wenigen.

Das Ankommen damals, 1961, sollte nicht in ein Dableiben münden. Dann wurden es doch mehr als 50 Jahre. Jenny Schon – Dichterin, Führerin durch die Stadtgeschichte, Buchhändlerin – steht auf ihrem Balkon, schaut auf eine Wilmersdorfer Wiese, von Birke und Tanne gerahmt, dahinter eine grün melierte Zone aus Kleingärten, darüber der Himmel. Sonst nichts. Doch nun wird eine Mauer gesetzt vor ihren Balkon. Es wird „nachverdichtet“. Dieses Wort war der Dichterin bislang unbekannt. Wie auch der deutschen Dichtung insgesamt. Ginge auch gar nicht, neue Wörter in eine Zeile zu pressen, die seit Jahren Sinn macht. Käme Unsinn heraus.

Berlin braucht Wohnungen. Mindestens 137 000 Wohnungen bis 2025, fordert ein Senatspapier. Es dürfen aber auch gerne ein paar mehr werden. Um 250 000 Menschen werde die Stadt wachsen. Mindestens. Die Immobilienfirma Becker & Kries schrieb an ihre Mieterin Jenny Schon: „Alle Akteure des Wohnungsmarktes“ seien aufgerufen, neue Häuser zu bauen. Becker & Kries stellt deshalb einen Viergeschosser auf die Wiese vor Jenny Schons Balkon. Und noch einen auf den Parkplatz hinter ihrer Küche. Derart eingezwängt ist der Blick weg, den Jenny Schon braucht fürs Dichten und Leben. Und die Luft auch. Und die Sonne. Sie ist ja nicht wie andere nur zum Schlafen und Essen in ihrer Einzimmerwohnung. Ohne Luft und Sonne würde sie verkümmern, „das halte ich nicht aus“. Deshalb wird sie die Stadt verlassen. Berlin befinde sich „im Hauptstadtstress“, da möchte sie nicht mehr Schritt halten.

Nachverdichtung gilt als die schonendste Form der Stadtentwicklung

Im wachsenden Berlin gibt es viele Jennys, denen die vertraute Umgebung abhanden kommt. Fast 17 000 Wohnungen könnten in bestehende Siedlungen hineingebaut werden, ergaben die Nachforschungen des Bezirksamts Mitte. Etwa zwischen den Hochhäusern auf der Fischerinsel. Auch in der Neuköllner Gropiusstadt wird nachverdichtet. Und im Komponistenviertel in Weißensee. Gerne werden Parkplätze und Rasenflächen neu verplant.

Überhaupt gilt Nachverdichtung als die schonendste Form der Stadtentwicklung. Es gibt praktisch nur Befürworter. Eine ist die Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. Sie findet, dass mehr Dichte auch für die Menschen darin Vorteile bringt: neue Nachbarn, neue Läden, neue Kitas. Kurz: mehr Urbanität.

Und noch mehr Vorteile: Es findet kein Flächenverbrauch statt. Zumindest dem Papier nach nicht. In die Flächenverbrauchsstatistik werden verloren gegangene Grünflächen innerhalb von Siedlungen nicht eingerechnet.

Im Mai 2010 wurde der stillgelegte Flughafen Tempelhof als Park eröffnet und begeistert angenommen - für die Instandhaltung ist das Geld aber knapp..
Im Mai 2010 wurde der stillgelegte Flughafen Tempelhof als Park eröffnet und begeistert angenommen - für die Instandhaltung ist das Geld aber knapp..

© Kai-Uwe Heinrich

Wiese ist nicht gleich Wiese. Die Grundstücke gelten rechtlich schon als Bauland, müssen also nicht in einem langwierigen Verfahren umgewidmet und erschlossen werden. Die Bezirke müssen keine Vorleistungen erbringen, damit neue Wohnungen entstehen. Die Grundstückseigentümer werden von selbst aktiv. In Nachverdichtung zu investieren ist fast ohne Risiko. Und wenn es Proteste gibt, dann immer nur von Nachbarn, also wenigen. Nicht, wie beim riesigen Tempelhofer Feld, dessen Bebauung im Mai per Volksentscheid gestoppt wurde.

Der Blick ins Grüne ist nicht grundgesetzlich geschützt, aber in Berlin weit verbreitet. Seit den 1920er Jahren lassen die Architekten Licht und Luft in die Quartiere. Es wurde offen und großzügig gebaut, mit großen Abständen zu Nachbarhaus und Straße. Die Gartenstädte und Sozialsiedlungen sollten den Menschen aus der Hinterhofenge der Arbeiterquartiere befreien. Der Krieg schaffte zusätzlichen Platz, und die Teilung der Stadt dämpfte die wirtschaftliche Entwicklung. Brachen und Baulücken blieben lange Zeit unversehrt. Die Stadt schrumpfte von mehr als vier Millionen Einwohnern vor dem Krieg auf 3,4 Millionen Anfang der 1990er Jahre. Gleichzeitig wuchs der Siedlungsraum, von 1950 bis 2005 um fast 110 Quadratkilometer, besonders durch die Großwohnsiedlungen in Marzahn, Hellersdorf, durch das Märkische Viertel und die Gropiusstadt. Dahinter wird ein klarer Trend zur Entdichtung erkennbar. Heute leben in Berlin rund 3800 Menschen auf einem Quadratkilometer Fläche. In Paris sind es 21 300.

1990 belegte ein Berliner durchschnittlich 22 Quadratmeter, heute 38

Townhouses passen in die kleinste Lücke, sind also ideal zum Nachverdichten. Seit 2005 erlebt diese Wohnform für die Wohlhabenden einen Boom.
Townhouses passen in die kleinste Lücke, sind also ideal zum Nachverdichten. Seit 2005 erlebt diese Wohnform für die Wohlhabenden einen Boom.

© Thilo Rückeis

In den 1980er Jahren wurden die Altbauquartiere Berlins wiederentdeckt, die städtische Dichte des 19. Jahrhunderts sollte nicht mehr abgerissen, sondern saniert werden. Hinterhöfe wurden zu grünen Treffpunkten aufgehübscht, Künstler kamen, nach ihnen die Touristen, anschließend die Immobilienkäufer. In der quirligen Enge von Prenzlauer Berg, einst das Elendsquartier der Kaiserzeit, trifft sich heute die arrivierte Stadtgesellschaft. Baulücken sind geschlossen, Dachgeschosse ausgebaut. Der Blick über Berlin kostet hier ein Vermögen.

Gleichzeitig gerieten die Wahrzeichen der Moderne, Gropiusstadt und Märkisches Viertel, ins Hintertreffen. Nicht wegen zu viel Licht und Luft, sondern fehlender sozialer Mischung. Es entstanden Arbeitslosenballungsräume.

An der Wiesbadener Straße in Wilmersdorf glaubten die Architekten der 60er Jahre noch an den Befreiungsimpuls der Moderne. Die Unternehmer Georg Becker und Günter Kries bauten schlichte Rechtecke und Würfel mit viel Luftraum drum herum. Jenny Schon entdeckte diesen Ort erst vor zehn Jahren, aber als er entstand, war sie bereits in der Stadt, als eine der ersten Jugendlichen, die nach dem Mauerbau nach West-Berlin zogen. Dringend waren damals die Appelle von Parteien und Verbänden, die Freiheit Berlins zu verteidigen. Durch Zuzug. Als sie ankam, wohnte Jenny Schon zur Untermiete bei einer Kriegswitwe „im finsteren Moabit“, ganz bescheiden.

Mit einer Brise Salz

Aus Märkischem Sand

Bestreue ich mein

Köfferchen, mit dem ich ankam

An jenem

Salzbraunkohlestinkenden

Silvestertag

Nach dem Mauerbau...

So schrieb sie es damals in einem Gedicht, dass im Buch "fussvolk" (Geest Verlag 2012) erschien. Jetzt ziehen wieder Menschen nach Berlin. Die Stadt empfängt sie mit offenen Armen, baut ihnen große helle Wohnungen und neue Schulen. Aber „warum müssen die Neuberliner unbedingt in der Innenstadt wohnen?“, fragt Jenny Schon. Direkt vor ihrer Nase?

Ist dieses Denken reiner Egoismus? Ein typischer Fall von St. Florian?

Jenny Schon, große, fragende Augen, schwarze, wallende Kleider, kastanienrote Haare, sitzt auf ihrem Bürostuhl mit Blick auf Bettcouch, Landschaftsbilder und Bücherregal. Dazwischen wollte sie ihren Lebensabend verbringen. 20 Mal sei sie in Berlin umgezogen, vorwiegend von WG zu WG. Als Maoistin besuchte sie Vietnam-Kongresse, eröffnete einen linken Buchladen, diskutierte über den Weg in die Revolution. Erst in den 80ern bekam sie eine eigene Wohnung. Jobsharing machte sie, um Zeit zu haben für Fortbildungen und Studium, auch deswegen sei die Rente heute nicht so hoch, wie sie sein könnte.

Die Wohnansprüche steigen

Jahrzehntelang war der freie Blick für sie ohne Mietaufschlag zu haben. Ein Gewohnheitsrecht, Entschädigung für langes Ausharren in der geteilten Stadt, die andere längst verlassen hatten. Jenny Schon zahlt 400 Euro warm für ihre Wohnung. Mit Blick. Künftig wird sie dieselbe Miete ohne zahlen. Die Aussicht auf Wiese, Birke und Himmel wird dann einen Marktwert erhalten, rund zwei Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Die Zuzügler in den neuen Wohnungen werden diesen Zuschlag gerne bezahlen.

Die Wohnansprüche steigen. Heute leben in Berlin etwa genauso viele Menschen wie vor 20 Jahren, doch sie bewohnen mehr Fläche. 1990 belegte ein Berliner durchschnittlich 22 Quadratmeter, heute sind es 38. Theoretisch ließen sich in den Wohnungen doppelt so viele Menschen unterbringen. Zwischen 1990 und 2010 wurden rund 160 000 Wohnungen neu gebaut, aber die Zahl der Einwohner blieb annähernd konstant.

Wer ist hier jetzt der Egoist?

Und was ist mit St. Florian?

Der Architekt Le Corbusier schreibt 1943 Licht, Platz und Grün als Teile der modernen Stadt fest. Jenny Schon beruft sich 2014 auf ihn.
Der Architekt Le Corbusier schreibt 1943 Licht, Platz und Grün als Teile der modernen Stadt fest. Jenny Schon beruft sich 2014 auf ihn.

© Kaystone

„Da würde ich abwägen“, sagt Jenny Schon. Unversehrtheit ihrer Person gegen die Knappheit von Wohnungen. „Ist die Wohnungsnot wirklich so groß? Gibt es nicht genügend versiegelte Flächen? Was ist mit dem Steglitzer Kreisel, der steht doch leer?“ Und hat ein Golfklub am Wannsee, dessen breite Bahnen Siedlungsflächen umschließen, eigentlich noch eine Existenzberechtigung in der wachsenden Stadt?

Der Senat hat sich ein „Flächenmonitoring“ auferlegt, eine Grobanalyse, wie viele stillgelegte Industriegebiete, Kasernen, Bahnanlagen und DDR-Regierungsgebäude sich langfristig für den Wohnungsbau umnutzen lassen. Stand 2011 wurden 1600 Hektar ermittelt, ein „erheblicher Umfang“, der den Bedarf an Wohnungen bis mindestens 2025 decken könne, sagen die Autoren. Ganz ohne eine Verdichtung bestehender Wohnsiedlungen. Trotzdem gilt die Nachverdichtung als ein wichtiges „Planungsziel“.

Zu unkritisch würde dieser Begriff verwendet, sagt die Stadtplanerin Cordelia Polinna von der Technischen Universität. Siedlungen der 60er und 70er Jahre zu überbauen, sei kaum sinnvoll, eher schon die vielen Nachkriegsprovisorien an den Ausfallstraßen in die Peripherie der Stadt. Dort fehle es an zentralen Plätzen.

Eingeschossige Supermärkte mit Kundenparkplatz vs. Nachverdichtung

Doch die Bezirke würden eher auf Investorenprojekte reagieren, als eigene Visionen zu entwickeln. Wer Nachverdichtung propagiere, dürfe nicht gleichzeitig eingeschossige Supermärkte mit Kundenparkplatz genehmigen, das sei eine „städtebauliche Beleidigung“.

Das Unternehmen Becker & Kries hat zur Vorstellung seines Bauvorhabens vor einigen Wochen ins Rathaus Wilmersdorf geladen. 120 Mieter sind gekommen, vorwiegend ältere Menschen, wenig protesterfahren. Architekt Andreas Becher ist ein kräftiger Mann, braun gebrannt, zu Scherzen aufgelegt. Seine Präsentation ist dramaturgisch klug aufgebaut. Schon am Anfang kommt Becher auf den entscheidenden Nachteil zu sprechen: die Verschattung der Altbauten durch die Neubauten. Diesen Nachteil gebe es, da wolle er nichts beschönigen. „Einen Tod stirbt man immer.“ Er wisse ja, wie die Ansprüche sind in Berlin: „freie Sicht bis zu den Alpen.“ Er lacht. Das Tucholsky-Zitat verpufft. Niemand lacht mit. Dann kommt die gute Nachricht: Der Schatten treffe nur die unteren drei Etagen, die oberen schauten drüberweg. Jenny Schon wohnt im zweiten Stock. Zum Nachteil gesellen sich laut Becher viele Vorteile: günstiger Wohnraum, besseres Wohnumfeld, effizientere Flächennutzung (Tiefgaragen statt Parkplätze) und natürlich „Nachverdichtung“. Diese Vokabel braucht kein Adjektiv, sie steht für sich.

Seit zehn Jahren wohnt Jenny Schon in ihrer Wilmersdorfer Wohnung, die klein ist, aber einen Blick ins Grüne hat. Den brauche sie zum Leben, sagt sie.
Seit zehn Jahren wohnt Jenny Schon in ihrer Wilmersdorfer Wohnung, die klein ist, aber einen Blick ins Grüne hat. Den brauche sie zum Leben, sagt sie.

© Doris Spiekermann-Klaas

Dann übernimmt Matthias Klussmann, Vorstand von Becker & Kries. Trotz der schwülen Wärme legt er sein Jackett nicht ab. Klussmann spricht zögernd und vermeidet Reizwörter. Er lädt die Anwesenden ein, bei der Neugestaltung der Grünanlagen mitzumachen, man sei für Wünsche offen. Bei den Wohnbauten allerdings gebe es kaum noch Spielraum, da stehe man bei den Planern vom Bezirksamt im Wort. Ihm ist unwohl bei diesem Satz. Seine gedrückte Stimme verrät es.

Jenny Schon steht auf, sie spricht mit dünner, erregter Stimme, fragt nach den Mieten für die neuen Wohnungen und ob die Altmieter entschädigt würden für den Verlust an Licht und Luft. Viele seien nur deswegen hierhergezogen. „Wo ist der menschliche Aspekt dieser Bebauung?“

Jenny Schon möchte auch wissen, warum man eine Wiese, die als öffentliche Grünanlage beschildert sei, einfach so bebauen könne. Alle Mieter hatten ja gedacht, so eine Grünanlage gehöre dem Bezirk, also der Allgemeinheit. Dann stellte sich aber heraus, dass sie nur eine „öffentlich zugänglich Grünanlage“ auf privatem Bauland darstellt. Eine Wiese zweiter Klasse.

Betroffene müssten auch mal etwas aushalten, findet der Architekt

Diese Wiese kommt nun also weg, samt Birke und Tanne, weil sich das 1965 von Senat und Bezirk festgesetzte Planungsziel Grünanlage nach fast 50 Jahren erledigt hat. „Der Grünzug bleibt ja erhalten“, sagt Baustadtrat Marc Schulte von der SPD. Nur eben deutlich schmaler.

Jenny Schon beruft sich in einem letzten Aufbäumen auf die „Charta von Athen“ von 1943. Darin hatte der große Architekt Le Corbusier die Sache mit Licht und Luft in einem Gesamtkonzept der modernen Stadt festgeschrieben. Vieles an dem Konzept erwies sich später als falsch, aber nicht der freie Blick.

Die Charta von Athen spielt bei den übrigen Altmietern keine Rolle. Sie wollen wissen, was aus den alten Bäumen wird, wo die Tiefgaragen liegen und ob es wieder ein Hausmeisterehepaar geben soll. Klussmann bietet schließlich noch einen Bonbon für seine treuen Mieter. Wer umziehen möchte in den neuen Block mit tollem Grünblick auf die Kleingärten (Bestandsschutz bis 2020), werde bevorzugt behandelt und zahle einen Euro weniger Kaltmiete. Die soll zwischen 8,50 und 12,50 Euro pro Quadratmeter liegen. Zu viel für Jenny Schon.

Architekt Becher findet, bei so viel Wohnungsnot müsse man als Betroffene „auch mal was aushalten.“ Und Klussmann sagt dann noch: „Wohnungen zu bauen ist vom Grundsatz her nicht inhuman.“

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