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Staatskrise in Tunesien: Der Widerstand gegen Tunesiens Präsident wächst

Tunesiens Präsident Saied wird vorgeworfen, ohne demokratische Kontrolle zu regieren. Tausende gehen mittlerweile gegen ihn auf die Straße.


Es sind so viele wie aus keinem anderen Land. Mehr als 11.000 tunesische Flüchtlinge sind seit Jahresbeginn in Italien angekommen. Ein Grund dafür ist die Staatskrise in Tunis, wo Präsident Kais Saied im Juli das Parlament und die Regierung nach Hause geschickt hatte. Viele Tunesier jubelten damals dem Präsidenten zu. Doch Saieds „Putsch“, wie seine Kritiker die Entmachtung staatlicher Institutionen nennen, hat die Probleme des Landes nicht gelöst. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert von Saied die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie. Unter dem wachsenden Druck bemüht sich Saied nun, seine Reformbereitschaft zu demonstrieren. Er ernannte jetzt die erste Ministerpräsidentin in der Geschichte des Landes.

Tunesien, die einzige Demokratie, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings hervorging, leidet unter Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption. Der Verfassungsrechtler Saied, 2019 als Außenseiter ins Präsidentenamt gewählt, misstraut den Parteien und Politikern in der Hauptstadt Tunis und will das System grundlegend verändern. Er hat deshalb Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt. Änderungen an ihr will er mit einem Ausschuss ausarbeiten, den er selbst eingesetzt hat. Einen gesellschaftlichen Dialog über die Reformen, die auf eine Stärkung des Präsidentenamtes hinauslaufen dürften, soll es demnach nicht geben.

Die Wirtschaftskraft schrumpfte 2020 um neun Prozent

Mit Ausreisesperren gegen Dutzende Politiker wegen Korruptionsverdacht pflegt Saied sein Image als unbestechlicher Saubermann. Denn die Politiker im Parlament gelten bei vielen Tunesiern als inkompetent und geldgierig. Doch Saied hat als selbsternannter Retter der Nation bisher nicht dargelegt, wie er das Land aus der Krise führen will. Es gebe eine „gigantische Lücke“ zwischen den Erwartungen vieler Tunesier und dem, was Saied tatsächlich liefern könne, sagt Nahost-Expertin Monica Marks vom Campus der Universität New York in Abu Dhabi im Podcast „Babel“ der Denkfabrik CSIS.

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Dabei wartet das Land dringend auf Antworten. Die Wirtschaftskraft Tunesiens schrumpfte im vergangenen Jahr wegen der Pandemie um fast neun Prozent – ein Absturz, den das für dieses Jahr erwartete Wachstum von vier Prozent nicht wettmachen kann. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent, die Staatsverschuldung bei fast 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über ein Hilfsprogramm von vier Milliarden Dollar könnten einen Ausweg bieten, sie sind allerdings seit Saieds Intervention im Juli unterbrochen.

Noch genießt der Präsident das Vertrauen vieler der elf Millionen Tunesier, doch der Widerstand gegen ihn wächst. Der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT kritisiert, dass Saied Verfassungsänderungen im Alleingang anstrebt. Einige Parteien, die Saieds Einschreiten gegen Regierung und Parlament zunächst begrüßt hatten, wenden sich inzwischen gegen den Staatschef. In einer gemeinsamen Erklärung beklagten 18 tunesische und internationale Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen, Saied regiere ohne jede demokratische Kontrolle. In Tunis demonstrierten vor einigen Tagen erstmals mehrere Tausend Menschen gegen Saieds „Putsch“.

Saied gerät außenpolitisch in Bedrängnis

Auch außenpolitisch gerät Saied zunehmend in die Klemme. In einem Telefonat rief Kanzlerin Merkel den tunesischen Präsidenten nach Angaben der Bundesregierung zum „Dialog mit allen politischen Akteuren“ auf.

Um der wachsenden Kritik zu begegnen, berief Saied jetzt die weitgehend unbekannte Geologin Najla Bouden Romdhane zur neuen Regierungschefin. Romdhane entspricht den Vorstellungen des Präsidenten. Die 63-jährige ist keine Politikerin, sondern eine Akademikerin ohne Regierungserfahrung. Trotzdem soll sie so schnell wie möglich ein Kabinett zusammenstellen. Die neue Regierung soll Saied zufolge die Korruption bekämpfen und das „Chaos“ in staatlichen Institutionen beenden. Das Land habe bereits viel Zeit verloren, erklärte der Präsident – ohne zu erwähnen, dass er selbst daran nicht ganz unschuldig ist.

Erfolg oder Misserfolg der neuen Regierungschefin werden daran gemessen werden, ob es ihr gelingt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und den Menschen neue Hoffnung zu geben. Wie sie das nach dem jahrelangen Scheitern der tunesischen Politik machen soll, weiß niemand. Offen ist unter anderem, ob Saied ihr die nötige Entscheidungsbefugnis gewähren wird. Tunesien-Expertin Marks sieht in Romdhanes Ernennung deshalb einen „symbolischen Schritt nach vorne“ – aber einen inmitten von „vielen sehr gefährlichen Rückschritten“ im Land.

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