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Ein Fläschchen Natrium-Pentobarbital. Das Medikament ist ein Betäubungsmittel, die Abgabe ist strikt reglementiert.

© dpa picture alliance / Winfried Roth

Staat und Sterbehilfe: Aus Ethik wird Anspruch

Das Bundesverwaltungsgericht hat eine neue Perspektive in die Sterbehilfe-Debatte gebracht. Der Gesundheitsminister wird sich damit befassen müssen - auch wenn er sich noch weigert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Entscheidungen unabhängiger Gerichte sind zu akzeptieren und umzusetzen, hat die Kanzlerin gerade zum umstrittenen Abschiebefall Sami A. gesagt. Die Bundesjustizministerin ließ ähnliches verlauten. Wenn derartige Einsichten tatsächlich so verbreitet wären, wie Spitzenpolitiker vermitteln möchten, hätte die Bundesrepublik heute eine Behörde, die Anträge auf Medikamente zur Sterbehilfe fachlich-medizinisch prüft und in begründeten Fällen positiv bescheidet. Denn diese Aufgabe hatte das Bundesverwaltungsgericht 2017 dem unter Aufsicht des Gesundheitsministeriums stehenden Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte rechtskräftig zugewiesen.

Prinzipen sind gut - solange es nicht wichtigere Prinzipien gibt

Statt dessen: nichts. Minister Jens Spahn ließ die Behörde kürzlich anweisen, das Urteil zu ignorieren. Denn es bricht mit den Dogmen, die sich viele Politiker auferlegt haben. Die ersten Ablehnungen werden gerade verschickt.

Doch so ist es nun mal mit der Wirklichkeit: Man muss sich mit ihr befassen. Prinzipien sind nur so lange gut, wie sie nicht mit wichtigeren Prinzipien in Konflikt geraten. So verhält es sich mit der eigenen Ethik und dem Rechtsstaat. Spahn und seinem Amtsvorgänger Hermann Gröhe sind beste Absichten zu unterstellen, Schaden vom Volk abzuwenden. Aber wenn der Schaden darin bestehen soll, ein höchstrichterliches Gerichtsurteil zu befolgen, kann dessen Nichtbefolgung ein noch größerer sein.

Das Gericht schafft keine Begrenzung, sondern Orientierung

Die offenkundige Ignoranz gegenüber dem Richterspruch hat damit zu tun, dass er einen für die Politik unbequemen Faktor in der Sterbehilfedebatte sichtbar macht: die Selbstbestimmung am Lebensende als einklagbaren Grundrechtsanspruch. Das Thema bleibt ethisch und politisch zwar frei verhandelbar, bekommt damit aber zusehends einen rechtlichen Rahmen, in dem der Mensch und sein Schicksal jenseits kollektiver politischer oder religiöser Bekenntnisse eine wesentliche Rolle spielen. Darin liegt keine Begrenzung, sondern die Möglichkeit zur Orientierung. Auch zur Neuorientierung.

Richter entscheiden nur, was sie entscheiden müssen

Eine solche ist fällig. Nicht grundsätzlich, aber in Teilbereichen. Zwar hat der Gesetzgeber die „geschäftsmäßige“ Sterbehilfe mit respektablen Motiven bei Strafe verboten. Doch mit staatlich kontrollierter Abgabe tödlich wirkender Medikamente hat dieser Paragraf wenig zu tun. Der Staat bleibt in der Pflicht. Sollte sich im Bundestag eine Mehrheit dafür finden, ihn wieder aus dieser Pflicht herausnehmen zu wollen, bleibt der Anspruch dennoch ein Grundrechtsanspruch – über den der Gesetzgeber nur eingeschränkt disponieren kann.

Auch mit einem Urteil über die Verfassungsbeschwerden gegen das Verbot „geschäftsmäßiger“ Sterbehilfe wird sich das Problem kaum in Luft auflösen. Richter pflegen nur zu entscheiden, was sie entscheiden müssen. Alles andere überlassen sie dem Dialog der Bürger und den beiden anderen politischen Gewalten. Minister Spahn und die Seinen werden hier eine Position beziehen müssen, die über Verweigerung hinausweist. Früher oder später. Konservativ, wie Spahn sein möchte, eher später.

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