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Stephan Weil

© dpa/Peter Steffen

SPD-Politiker Stephan Weil: "Deutschland hat ein Rassismus-Problem"

Misstrauen und Ablehnung gegenüber Migranten dürfen sich nicht weiter verbreiten, sagt der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil im Interview. Schwere Vorwürfe macht er der CSU-Spitze.

Herr Weil, ist Deutschland ein rassistisches Land?

Nein. Südafrika war ein rassistisches Land, Nazideutschland war ein rassistisches Land. Die Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat, vor unseren Gesetzen sind alle gleich. Aber Deutschland hat ein Rassismus-Problem, das lässt sich nicht leugnen.

Seit Wochen berichten Menschen mit Migrationshintergrund auf Twitter unter dem Hashtag #Metwo, wie sie im Alltag diskriminiert werden. Hätten Sie das in diesem Ausmaß für möglich gehalten?

Ja, leider. Ich spreche viel mit Migranten. Menschen mit ausländischen Wurzeln schlägt zunehmend Misstrauen und Ablehnung entgegen, auch bei uns in Niedersachsen. Der Nachbar im Treppenhaus grüßt nicht mehr. Im Supermarkt gibt es argwöhnische Blicke. Es ist gut, dass #Metwo die Erfahrungen der Betroffenen jetzt bündelt und öffentlich macht. Diese Dinge müssen auf den Tisch, das darf nicht so weitergehen.

Was muss passieren?

Die deutsche Mehrheitsgesellschaft darf unser Rassismus-Problem nicht länger ignorieren oder verharmlosen. Die allermeisten Menschen in Deutschland wünschen sich – davon bin ich überzeugt – ein faires, freundliches Klima in unserer Gesellschaft. Aber dafür müssen wir auch aktiv etwas tun. Alle von uns sind angesprochen, wenn Mitbürger schlecht behandelt werden.

Wo fängt Rassismus an?

Er beginnt da, wo Menschen wegen ihrer Herkunft erkennbar anders behandelt werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Misstrauen und Ablehnung gegenüber Migranten immer weiter verbreiten. Diese Entwicklung der letzten Jahre bedrückt mich sehr.

Woher rührt das gewachsene Misstrauen?

Der tiefere Grund ist wohl die Verunsicherung vieler Menschen, die sich Sorgen wegen der Zukunft machen. Globalisierung und Digitalisierung sind nicht nur Zukunftsverheißungen, sondern werden oft auch als bedrohlich empfunden. Das gilt allgemein, kommt aber auch in Vorbehalten gegen Zuwanderung zum Ausdruck. Ich nehme an, dass deswegen viele Menschen heute kritischer auf ihre migrantischen Nachbarn schauen als noch vor ein paar Jahren.

Welche Verantwortung trägt die Politik für diese Entwicklung?

Politik muss Sicherheit und Vertrauen vermitteln. Das war in der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel anfangs sicher nicht der Fall. Sie war leider planlos. Unsere Systeme waren nicht auf den Flüchtlingszuzug ab September 2015 vorbereitet. Das hat viele Menschen verunsichert und es rechtspopulistischen Brandstiftern letztlich leicht gemacht, aufzuhetzen und die Gesellschaft zu spalten. Damals ist ein Geist aus der Flasche gelassen worden.

Also hat die Politik, hat der Staat versagt?

Das ist überzogen. Aber es sind Fehler gemacht worden. Kommunen und Länder mussten innerhalb weniger Wochen ein Krisenmanagement aus dem Boden stampfen, das sie sich zuvor nicht hätten ausmalen können. Aber es war kein Staatsversagen und auch keine Herrschaft des Unrechts, wie Horst Seehofer behauptet hat.

Der Streit um die Flüchtlingspolitik wird nunmehr seit Jahren mit einer besorgniserregenden Härte geführt. Woran liegt das?

Vielleicht hätte die Bundeskanzlerin schon zu einem früheren Zeitpunkt Fehler eingestehen müssen. Es war für viele Deutsche eine ganz neue, zutiefst verunsichernde Erfahrung, dass der Staat mit seinen Aufgaben nicht fertig wird. Aber anstatt nüchtern zu bilanzieren, was falsch gelaufen ist, hat die Bundeskanzlerin zu lange darauf beharrt, recht gehabt zu haben. Bei meinen Bürgerversammlungen fällt mir immer wieder auf, dass sich beim Thema Flüchtlinge die Atmosphäre sofort entkrampft, wenn wir nüchtern miteinander sortieren, was richtig und was falsch gelaufen ist. Man muss die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Würde ich den Leuten erklären, dass sie falsch fühlen, wären die Gespräche zu Recht rasch beendet.

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Gibt es so etwas wie eine Obergrenze für das Fremde – ein Maximum am Zuwanderung, das eine demokratische Gesellschaft akzeptieren kann, ohne ihre Liberalität zu verlieren?

Die Akzeptanz der Zuwanderung hängt maßgeblich von der Qualität staatlichen Handelns ab. Die Bürger müssen ihrem Staat vertrauen können. Wenn der Staat seine Schutzfunktion erfüllt, ist Zuwanderung auch vermittelbar. Bürger, die dem Staat vertrauen, gehen auch weitere Schritte im Zusammenleben mit.

Tut der Staat genug dafür, dass die Integration gelingt?

Es passiert viel, aber es muss noch mehr passieren. Das gilt beispielsweise für Schulen, wo der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund bei 80 oder 90 Prozent liegt. In Salzgitter haben wir vorübergehend eine Zuzugssperre für Asylbewerber verhängt, weil die Stadt übermäßig stark davon betroffen war. Das ist etwas, das einem als SPD-Politiker nicht leicht fällt, aber es war notwendig.

Ist das Gelingen der Integration eine Schicksalsfrage für Deutschland?

Ein Fünftel der Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in unserem Land glücklich und erfolgreich sein können, wenn sich ein Fünftel der Bevölkerung ausgeschlossen fühlt. Das müssen und das können wir nur gemeinsam hinbekommen.

Überfremdungsängste gibt es auch unter SPD-Wählern. Was sagen Sie denen?

Allein mit Appellen an die Moral jedes Einzelnen kommt man nicht weiter. Den Skeptikern sage ich: Ihr könnt diesem Staat vertrauen und ihr könnt dieser SPD vertrauen. Und dann muss man konkreten Beweis dafür antreten. In Niedersachsen gelingt das in der Regel.

Integration muss oft in den Stadtteilen passieren, deren Bewohner ohnehin schlechter dran sind. Ist das gerecht?

Nein. Und es ist ein echtes Problem. Das sieht man besonders am heiß gelaufenen Wohnungsmarkt. In vielen Städten gibt es eine Konkurrenz zwischen Menschen, die schon immer oder schon länger in Deutschland leben, und denen, die erst seit Kurzem hier sind. Darum muss sich verantwortliche Politik kümmern und den Wohnungsbau vorantreiben. Der zuständige Minister, Horst Seehofer, hat hier bisher rein gar nichts bewegt. Das aber wäre sein Job, anstatt permanent Unsicherheit zu schüren. Seehofer und Söder haben hemmungslos das Geschäft der AfD betrieben. Ich finde das widerlich.

Die SPD tut sich erkennbar schwer mit den Themen Zuwanderung und Asyl. Ein Teil ihrer Anhänger würde eine härtere Flüchtlingspolitik durchaus begrüßen, andere warnen vor einem Verlust der Menschlichkeit. Hat die SPD-Spitze deshalb während des Unionsstreits um die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze so lange geschwiegen?

Die SPD hat sich in den Wochen des unionsinternen Bürgerkriegs maximal verantwortungsbewusst verhalten. Bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Sie hat verhindert, dass wir eine veritable Regierungskrise bekommen. Sie war der Stabilitätsanker der Bundesrepublik. Aber das kann die Union der deutschen Sozialdemokratie nicht noch einmal zumuten.

Die CSU hat mit Begriffen wie „Asyltourismus“, „Anti-Abschiebe-Industrie“ und „Asylgehalt“ Stimmung gemacht, und die SPD hat sie gewähren lassen …

So war es sicher nicht, aber wie gesagt: Die SPD war sehr, sehr verantwortungsbewusst. Diese Selbstbeherrschung ist nicht beliebig wiederholbar, das zeigen auch die Rückmeldungen von der Parteibasis.

Können Sie die Position der SPD bei Asyl und Zuwanderung auf eine klare Formel bringen?

Ja, sehr einfach und klar in vier Punkten. Erstens: Wir stehen zum Grundgesetz und zur Genfer Flüchtlingskonvention. Zweitens: Wer zu uns kommt, wird anständig behandelt. Wenn er kein Schutzrecht hat, muss er allerdings auch wieder gehen. Drittens: Wir bemühen uns maximal um Integration. Und viertens: Wir müssen uns endlich ehrlich machen. Deutschland ist ein Einwanderungsland und wir brauchen ein modernes Zuwanderungsrecht.

Ist es nicht so, dass die Sozialdemokratie in der Zuwanderungsfrage tief gespalten ist? Als Andrea Nahles kürzlich sagte, Deutschland könne nicht alle Migranten aufnehmen, wurde ihr rechte Rhetorik vorgeworfen.

Meine Position vertrete ich seit fast drei Jahren in fast denselben Worten auf unzähligen SPD-Versammlungen und ich habe dort noch nie ein Problem gehabt. Die Diskussion um das Zitat von Andrea Nahles habe ich deswegen nicht verstanden. Fair war sie nicht.

Sozialdemokratische Bürgermeister klagen über Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, die sich hier einen kleinen Job suchen und dann Kindergeld in Anspruch nehmen. Muss die Sozialstaatspartei SPD hier einschreiten?

Die Zuwanderung aus Südosteuropa ist viel größer als durch Flüchtlinge. An der Lösung des Problems mit dem Kindergeld wird gearbeitet. Es ist klar, dass Bürger wütend werden, wenn sie den Eindruck haben, unser Sozialstaat werde ausgenutzt. Das ist Gift für die Zustimmung zur europäischen Einigung.

Ihre Partei liegt im Bund nach fünf Monaten in der großen Koalition mit 18 Prozent nur noch knapp vor der AfD, bei der Bayernwahl droht der Absturz auf zehn Prozent. Ist die SPD als Volkspartei bald Geschichte?

Dass die AfD uns mittlerweile in den Umfragen gefährlich nahegekommen ist, regt viele in der SPD auf und motiviert mich ungeheuer. Ich bin absolut sicher: Es gibt ein großes Bedürfnis in unserer Gesellschaft nach einer linken Volkspartei – bürgernah als Kümmerer für die echten Alltagssorgen, aber mit einer klaren Haltung für Demokratie und Weltoffenheit.

Nächstes Jahr hält die AfD einen Parteitag ab, auf dem sie sich nur auf die Sozialpolitik konzentrieren will ...

Es ist ein altes, verlogenes Rezept der politischen Rechten, maximale Zuspitzung mit dem Versprechen angeblicher sozialer Wohltaten zu verbinden. Umso wichtiger ist es, dass unser Staat noch stärker als bisher zeigt, dass er keine Vorschläge der AfD braucht, sondern reale Probleme auch wirklich angeht. Im sozialen Wohnungsbau muss wesentlich mehr passieren.

Sie waren einer der größten Befürworter einer neuen großen Koalition. Heute steht Ihre Partei schlechter da denn je. Haben Sie sich getäuscht?

Es war sicher richtig, dass wir Verantwortung übernommen haben. Es geht in wichtigen Bereichen auch gut voran, wenn ich an die Rentenpolitik von Hubertus Heil oder die Kita-Politik von Franziska Giffey denke. Aber ich bin stocksauer auf die CSU, die das Ansehen dieser Regierung nachhaltig beschädigt hat. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die Bundesregierung insgesamt wieder Zustimmung gewinnt.

Weiß die SPD eigentlich, welche Wähler sie erreichen will und was diese Wähler wollen?

Ja. Es gilt im Grunde der alte Clinton-Satz: „People who work hard and play by the rules“. Wir stehen vor allem ein für Leute, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Und die SPD ist für alle Bürgerinnen und Bürger ein Angebot, die ein anständiges, sicheres Leben in einer Gesellschaft mit guten Zusammenhalt führen wollen. Um sie muss es vor allem gehen, das sind unsere Leute.

Das Interview führten Maria Fiedler und Stephan Haselberger.

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