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Martin Schulz (SPD), designierter Kanzlerkandidat.

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SPD-Kanzlerkandidat: Schulz' Abkehr von der Agenda 2010

Korrekturen an der Agenda 2010 verspricht der Kanzlerkandidat seiner SPD und den Gewerkschaften. Wem würden sie helfen? Fragen und Antworten zum Thema.

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Wo immer der designierte Kanzlerkandidat in diesen Tagen vor SPD-Publikum auch auftritt – die Genossen feiern ihn. „Dass ich die SPD glücklich mache, das macht mich glücklich“, rief Martin Schulz am Montag auf einer Arbeitnehmerkonferenz der SPD in Bielefeld. Der Merkel-Herausforderer zeichnete in seiner rund einstündigen, kämpferischen Rede das Bild einer starken deutschen Gesellschaft, in der es aber auch Ungerechtigkeiten gibt: „Vieles ist in unserem Land gut, aber es ist nicht alles gut.“ Der Zusammenhang von wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Sicherheit gehe verloren, Abstiegsängste und Ungleichheit würden zunehmen.

„Uns geht es darum, die vielen Sorgen der Menschen ernst zu nehmen“, erklärte der Kandidat. „Mut und Zuversicht“ seien auch notwendig, um „rechte Demagogen und Populisten“ zurückzudrängen. Die Schlüsselbegriffe des Auftritts lauteten „gemeinsam“ und „Gemeinsamkeit“ – immer wieder kam der Redner auf die Idee einer solidarischen Gesellschaft zurück, der sich die Union in vielen Streitfragen verweigere. Schulz kündigte an, er wolle im Wahlkampf Korrekturen der Sozialreform Agenda 2010 versprechen. Der Saal bejubelte ihn dafür.

Was hat Schulz konkret versprochen?

Auch wenn der SPD-Politiker an vielen Stellen noch vage bleibt, hat er erste Punkte für seine Gerechtigkeits-Agenda benannt: So will der 61-Jährige die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für Ältere wieder verlängern. Schulz verweist darauf, dass jemand, der mit 50 Jahren seinen Job verliert, auch bei langer Betriebszugehörigkeit nur 15 Monate Arbeitslosengeld bekomme. Danach gehe es „an seine Existenz und an seine Lebensleistung“. Viele Menschen hätten Angst vor dem Verlust einer sicheren Lebensgrundlage, warnte Schulz. Die SPD werde deshalb auch die Qualifizierungsangebote für Arbeitslose ausbauen.

Wenn er nach der Wahl im September Bundeskanzler sei, werde er die Möglichkeit der „sachgrundlosen Befristung“ abschaffen, kündigte der Redner außerdem an. Heute kann ein Betrieb einen neuen Mitarbeiter auch ohne konkreten Grund (etwa eine Elternzeitvertretung) für zwei Jahre befristet einstellen, allerdings nur, wenn vorher kein Arbeitsverhältnis bei diesem Arbeitgeber bestand. Sonderregeln gibt es außerdem für Unternehmensgründer. Und auch bei älteren Arbeitnehmern über 52 Jahren ermöglicht der Gesetzgeber momentan sachgrundlose Befristungen. Künftig sollen Arbeitgeber eine plausible Begründung liefern, wenn sie Stellen nur auf Zeit ausschreiben. Junge Leute benötigten Sicherheit, wenn sie gleichzeitig eine Familie gründen, ein Haus bauen wollten, sich ehrenamtlich engagieren oder gar noch Angehörige pflegen wollten, begründet Schulz seinen Vorschlag. „Auf Grundlage eines gut bezahlten fortdauernden Anstellungsverhältnisses kann man das alles leisten, aber sicher nicht in dauernd verlängerten befristeten Arbeitsverträgen“, sagte der designierte Kandidat.

Bei der Absicherung fürs Alter verspricht Schulz, das weitere Absinken des Rentenniveaus zu stoppen. Wenn man auch nach jahrzehntelanger Beschäftigung im Alter nicht mehr als die Sozialhilfe bekäme, werde die Legitimation der Rentenversicherung infrage gestellt. „Wir werden deshalb das Rentenniveau stabilisieren“, sagte er. Eine konkrete Größenordnung nannte er allerdings noch nicht. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte in ihrem Rentenkonzept ein Niveau von 46 Prozent bis zum Jahr 2045 in Aussicht gestellt. Aktuell liegt das Rentenniveau noch bei 48 Prozent.

Bedeutet das die Abkehr von der Agenda 2010-Politik?

Es wäre nicht die erste Korrektur an Gerhard Schröders Sozialreformen. Beispiel Arbeitslosengeld. Von der rot-grünen Regierung des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder wurde mit den Hartz-Reformen die Leistung begrenzt, die sich am letzten Verdienst orientiert. Wer über 55 Jahre war, erhielt nur noch 18 Monate statt zuvor bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld, danach war er auf Hartz IV angewiesen. Jüngere erhielten maximal 12 Monate lang Geld aus der Arbeitslosenversicherung. Durch die Verkürzung der Bezugsdauer würden die Lohnnebenkosten gesenkt, argumentierte der damalige Bundeskanzler Schröder bei der Vorstellung seiner Agenda 2010 im Bundestag. Angesichts von mehr als vier Millionen Arbeitslosen Anfang 2003 stand dieses Ziel im Zentrum seiner Sozialreformen. Die Begrenzung hielt Schröder aber auch für notwendig, um Arbeitsanreize zu setzen.

Doch nur zwei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung wurden die Kürzungen für Ältere teilweise rückgängig gemacht. Das lag nicht zuletzt daran, dass der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers (CDU), seiner Partei ein sozialeres Profil verschaffen wollte und sich dabei das symbolisch aufgeladene Thema herauspickte. Auch wenn SPD-Vizekanzler Franz Müntefering sich zunächst sträubte, schloss die SPD sich dem Vorschlag bald an, auch auf Druck des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und SPD-Chefs Kurt Beck. Mit Wirkung zum 1. März 2008 verlängerte die große Koalition das Arbeitslosengeld: Wer älter als 58 Jahre ist, hat seitdem Anspruch auf bis zu 24 Monate. Für die 50- bis 54-Jährigen beträgt die Bezugsdauer bis zu 15 Monate.

Auch an anderen Stellen gab es Korrekturen: So wurden die Hartz-IV-Reformen seit dem Inkrafttreten mehrfach novelliert. Unter anderem wurde das Schonvermögen ausgeweitet, welches Arbeitslose für die Altersvorsorge behalten dürfen. Der Gesetzgeber musste außerdem nachbessern, weil das Bundesverfassungsgericht die Berechnung der Kinder-Regelsätze beanstandet hatte.

Zuletzt brachte Arbeitsministerin Nahles neue Regeln für die Zeitarbeit auf den Weg, die unter Schröder weitgehend liberalisiert worden war. Nun gibt es – zumindest im Grundsatz – wieder eine maximale Verleihdauer für Zeitarbeitskräfte. Die SPD setzte außerdem in der großen Koalition die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns durch, die sie zumindest aus heutiger Sicht als notwendige Ergänzung der damaligen Arbeitsmarktreformen sieht.

Wie viele Menschen würden von den Vorschlägen profitieren?

Da Schulz seine Ideen noch nicht detailliert ausgearbeitet hat, lässt sich das nur grob abschätzen. Beispiel Arbeitslosenversicherung: Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) gab es im November 2016 rund 303000 Menschen über 50 Jahren, die Arbeitslosengeld I bezogen. Insgesamt waren zu dem Zeitpunkt 713000 Menschen auf die Leistung aus der Arbeitslosenversicherung angewiesen. Fast die Hälfte der Menschen, die derzeit Arbeitslosengeld I beziehen, sind also 50 Jahre oder älter. Doch die Bundesagentur hat keine Statistiken darüber, wie viele aus dieser Altersgruppe tatsächlich in Hartz IV abrutschen. Nach Ansicht von Schulz kommt es auf diese Zahl allerdings auch nicht an: Schließlich argumentiert er, dass schon die Aussicht auf einen möglichen Abstieg reiche, um die Menschen zu verunsichern.

Doch die Verlängerung der Bezugsdauer könnte auch umgekehrt dazu führen, dass Arbeitgeber wieder häufiger darüber nachdenken, ältere Mitarbeiter zu entlassen – eben weil sie diese für einen längeren Zeitraum abgesichert wissen. Mit seiner Ankündigung, befristete Beschäftigung eindämmen zu wollen, greift Schulz einen allgemeinen Trend in der Arbeitswelt auf. So ist die Zahl der befristeten Verträge in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Am höchsten fällt der Anteil der Befristungen bei den 25- bis unter 34-Jährigen aus: Laut Statistischem Bundesamt hatten im Jahr 2015 knapp 18 Prozent der abhängig Beschäftigten in dieser Altersgruppe einen befristeten Vertrag. In der Gruppe der 35- bis 44-Jährigen waren es hingegen nur noch 7,6 Prozent.

Wie steht die SPD heute zur Agenda 2010?

Die Sozialdemokraten haben für das Reformwerk ihres Kanzlers Schröder einen hohen Preis bezahlt: Millionen von Wählern fühlten sich von der SPD im Stich gelassen und kehrten ihr den Rücken. Abtrünnige Genossen schlossen sich mit der damaligen PDS zur Linkspartei zusammen, die sich damit auch im Westen als SPD-Konkurrenz etablieren konnte. Auch das Verhältnis zu den Gewerkschaften litt massiv und musste in jahrelangem Werben um Vertrauen wieder aufgebaut werden. Nach vielen Korrekturen bekennt sich heute ein Großteil der SPD wie Schulz zu den ökonomischen Erfolgen des Reformwerks, befürwortet aber ein weiteres Abschleifen sozialer Härten. Grundsätzlich stehen die Genossen zu den Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt, auch weil die Arbeitslosenzahlen seit Einführung der Agenda 2010 spürbar zurückgegangen sind. Die meisten Sozialdemokraten bestreiten außerdem nicht, dass die Reform der Arbeitsverwaltung die Vermittlung effektiver gemacht hat. Mit Schröder, der in der SPD lange als „persona non grata“ galt, hat sich die Partei inzwischen versöhnt.

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