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Helmut Schmidt bei der SPD-Regionalkonferenz in Berlin.

© Georg Ismar

SPD in der Krise: Das Hoffen des Helmut Schmidt

Er ist Namensvetter des Altkanzlers und seit 50 Jahren in der SPD. Ein Besuch der Berliner Regionalkonferenz mit Helmut Schmidt.

Helmut Schmidt ist ein sehr akribischer Mann. Er hat eine blaue Mappe dabei, alle Biografien der Kandidatenduos hat er ausgedruckt, markiert, welche Parteigliederungen wen nominiert haben. Stellt er sich vor, gibt es meist eine Anspielung auf seinen Namensvetter.

Und Rauchen? Das hat er im Juli 1993 aufgegeben. Seit genau 50 Jahren ist der frühere Professor und Rektor an der Fachhochschule der Deutschen Bundespost Berlin in der SPD. 1969 eingetreten wegen Willy Brandt, nicht wegen Helmut Schmidt. Er zweifelt an seiner Mitgliedschaft.

Kein aktives Parteileben mehr, die Folgen der SPD-Privatisierungspolitik. Vieles stört ihn, auf schriftliche Vorschläge bekommt er selten Antworten. Der Tagesspiegel begleitet den 76-Jährigen im Jubiläumsjahr seiner Mitgliedschaft - und in einer entscheidenden Phase für die älteste Partei Deutschlands. Wem traut er den Vorsitz nach dem Rücktritt von Andrea Nahles zu?

Das Willy-Brandt-Haus ist an diesem Tag proppenvoll. Helmut Schmidt steht unter der schützenden Hand der Brandt-Skulptur und lässt diese Stimmung auf sich wirken. Er wird am Ende sagen, das habe ihn fast so beeindruckt, wie die letzte Rede von Altkanzler Schmidt bei einem SPD-Bundesparteitag, das war 2010 in Berlin. Er schöpft neue Hoffnung - aber letztlich geht es ihm nicht um Personen, sondern um den richtigen Kurs.

Konferenzen sind „Ich-träum-mir-die-ideale-Welt“-Veranstaltungen

Während öffentlich kaum groß Notiz genommen wird von den 23 Regionalkonferenzen der SPD, sind alle Veranstaltungen vor Ort sehr gut besucht, bis zu 1000 Genossinnen und Genossen. Schmidt notiert alle Äußerungen, er muss danach erstmal darüber schlafen. „Hier wird das ganze Spektrum der SPD deutlich und die Verteilungsfrage ist viel deutlicher angesprochen worden, als es zuletzt der Fall gewesen ist“, sagt Schmidt mit Blick auf die Berliner Regionalkonferenz, zu jeder Konferenz gibt es auch einen Live-Stream.

[Lesen Sie auch den ersten Teil: Das Leiden des Helmut Schmidt]

Die Konferenzen sind mitunter „Ich-träum-mir-die-ideale-Welt“-Veranstaltungen, von hohen Renten und Mindestlöhnen bis zu den Vereinigten Staaten von Europa. Aber real nicht umsetzbar – weder in der GroKo, noch in der Opposition, Hoffnungen müssen enttäuscht werden.

Nach rund zwei Drittel der Konferenzen steht für Schmidt fest: „Stand heute, liegen für mich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vorne.“ Also die Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg und der frühere NRW-Finanzminister, der Steuersündern das Fürchten gelernt hat. Beide sind für das Ende der Koalition und wollen eine Wende für mehr Umverteilung und Investitionen.

Es läuft auf einen Zweikampf hinaus

Es zeichnet sich ab, dass es am Ende einen Zweikampf zwischen dem favorisierten Duo Olaf Scholz und Klara Geywitz und einem Team wie Esken/Walter-Borjans geben wird, das die große Koalition beenden will. Helmut Schmidt hat 2018 gegen das Bündnis gestimmt – er sieht es als Beschleuniger des Profilverlustes der SPD.

Die Union weiß genau, dass sie Vizekanzler Scholz erst beim Klimapaket und nun bei der geplanten Grundrente für Geringverdiener möglichst weit entgegenkommen sollte, damit das Duo Scholz/Geywitz beim Mitgliedervotum eine Gewinnerchance hat und zweitens danach beim Bundesparteitag (6. bis 8. Dezember) die große Koalition nicht beerdigt wird.

Alle hektischen Versuche der SPD-Spitze, Nachbesserungen beim Klimapaket und eine höhere CO2-Bepreisung von Benzin und Heizöl anzubieten, müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Kandidatenduos wie Walter-Borjans/Esken mobil machen gegen den von Scholz und der kommissarischen Spitze um Malu Dreyer mit Kanzlerin Angela Merkel und der Unions-Spitze ausgehandelten Kompromiss.

Schmidt: „Die SPD macht kaum noch eine Politik, die auf die ländlichen Räume ausgerichtet ist.“

Gerade viele Funktionäre würden gerne mehr grüne Handschrift sehen, während viele Mitglieder und frühere Wähler das ganz anders sehen – und vor Mehrkosten zulasten der kleinen Leute warnen. Das Thema kann spalten – die AfD inszeniert sich als Anti-Klimahysterie-Partei.

„Die SPD macht kaum noch eine Politik, die auf die ländlichen Räume ausgerichtet ist“, kritisiert Schmidt. Da leben halt Pendler und viele Menschen wohnen in Wohnungen mit Ölheizungen - und viele Bürger klagen über schlechtes Netz. Scholz habe als Bundesfinanzminister Milliardensummen mit der Versteigerung der 5G-Frequenzen eingenommen – aber nicht durchsetzen können, dass an jeder Milchkanne schnelles Internet vorhanden sein wird.

Schmidt ist dafür „Berlin groß zu denken“ - dafür müsse halt der Rahmen stimmen. Warum nicht den Speckgürtel bis Mecklenburg-Vorpommern erweitern, mit einen Ausbau von Bahn- Bus- und anderer Infrastruktur? Dann würde sich auch der Miet- und Immobilienmarkt entspannen. Und Berlin nicht aus allen Nähten platzen.

Immer weniger direkter Kontakt

Draußen vor dem Willy-Brandt-Haus wird Schmidt fast von einem Radfahrer umgenietet. „Sie waren hier immer so stolz auf die autogerechte Stadt“, erzählt der 76-Jährige. „Wissen Sie, warum die Briefkästen direkt an der Straße stehen in Berlin? – Damit sie die Briefe aus dem Autofenster einwerfen können.“ Tempi passati. Nun soll Berlin nach der Vorstellung von Verkehrssenatorin Regine Günther möglichst schnell zur Verbrenner-freien Stadt werden.

Schmidt sieht einen Grund für den Niedergang seiner SPD im Entfernen von Bürgern und Mitgliedern, immer weniger direkter Kontakt. Da ist die SPD wie die moderne Arbeitswelt, wo vieles aufgrund knapper Ressourcen und Zeitdruck auf der Strecke bleibt. Und Schmidt sieht einen Kardinalfehler in der von der SPD mitbetriebenen Privatisierungspolitik.

„Ich bin ein alter Telekomer“, sagt der Ingenieur, der auch kurzzeitig Oberbürgermeister in Brandenburg war. Die Telekom habe früher ihren Infrastrukturauftrag wahrgenommen, war mit der Erfindung des ISDN auch technisch international vorn dabei. „De Präsenz in der Fläche wurde gegen einen Verwaltungsmoloch in Bonn auf nahezu Null gesetzt, die sprichwörtlichen Funklöcher interessieren in Bonn so gut wie gar nicht.“

Halbherziges Vorgehen bei der SPD

Und auch bei Post und Bahn seien dramatische Verschlechterungen aus Profitgründen eingetreten sagt Schmidt. Die Postsparkasse sei die Bank der kleinen Leute gewesen und war flächendeckend präsent. „Ich habe mein Postsparbuch von 1953 noch“, sagt er. „Die gelbe Post ist heute weltweit tätig, aber in Deutschland sind tausende Briefkästen und Niederlassungen verschwunden. Und Paketboten, beschäftigt bei Subunternehmen, müssen von der Regierung vor Ausbeutung geschützt werden."

Die Bahn wiederum habe tausende Kilometer von Gleisen stillgelegt. „Auf den Autobahnen fahren und stehen heute kilometerlange Lastwagen-Züge mit klimagefährdenden CO2-Emissionen“, betont Schmidt. „Früher galten unbestritten die Worte „Pünktlich wie die Bahn“ und „Alle sprechen vom Wetter, wir nicht“.

Auch das sei vorbei. Alles Themen, die die SPD nur halbherzig angehe. Und als Ingenieur ärgert ihn besonders, dass die Gesellschaft von Ökonomen erfolgreich zur Wegwerfgesellschaft umerzogen worden sei. Das sei zum Schaden aller. „Die begrenzten Ressourcen der Erde gehören nicht auf den Müll.“

Damit er in der Partei  bleibt, muss sich aus Schmidts Sicht auch das Miteinander in der SPD ändern. „Es muss wieder zugehört werden. Und wichtig ist nicht, wer was gesagt hat, sondern was gesagt worden ist.“ Die Partei müsse auch unbedingt unabhängiger von der Regierung werden, erst Basisdiskussion, dann Entscheidung. „Volkspartei kann man nur sein, wenn die eigene Mitgliedschaft überhaupt wahr- und ernstgenommen wird", sagt er. "Und das ist mangels Beteiligung der Mitglieder zurzeit unmöglich", kritisiert Schmidt.

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