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Impfmüdigkeit. Am Montag wurden so wenige Impfdosen verabreicht wie zuletzt Anfang Februar zu Beginn einer Woche.

© Marijan Murat/dpa

Spahn fordert „fünf Millionen Impfungen und mehr“: Steigt die Impfquote nicht deutlich, ist das RKI-Ziel in Gefahr

Mehr als acht Millionen Impfungen fehlen, damit, wie Spahn meint, „wir sicher durch Herbst und Winter kommen“. Die aktuellen Zahlen geben Anlass zur Sorge.

Wenn es zum Beleg der Impfmüdigkeit in Deutschland noch eines Zahlenbeweises bedurfte, dann gab es diesen zum Start in diese Woche. Die rund 118.000 verimpften Dosen sind der niedrigste Montagswert in der Corona-Pandemie seit dem 8. Februar. Mitte Juni waren es montäglich zu Hochzeiten noch mehr als 650.000.

Nach wiederkehrenden Appellen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) rief am Dienstag Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Bürger eindringlich zum Impfen auf. „Sie leisten damit für sich und unsere gesamte Gesellschaft einen ganz wichtigen Beitrag, den Weg aus dieser Pandemie zu finden“, sagte sie bei einer Generaldebatte im Bundestag.

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Spahn hatte am Wochenende betont, dass die Menschen in Deutschland jetzt im September darüber entscheiden würden „wie sicher wir durch Herbst und Winter kommen“. Und er wurde sogar noch konkreter: Dafür brauche es „noch fünf Millionen Impfungen und mehr in Deutschland“, sagte Spahn.

Ein Blick auf die aktuelle Impfquote verwunderte da: In Deutschland sind rund 61 Prozent der Menschen vollständig gegen das Coronavirus geimpft, das sind mehr als 51 Millionen Menschen. Fünf Millionen Mensch mehr würden die Quote zwar deutlich steigen lassen, allerdings bliebe sie unter 70 Prozent. Doch hatte das Robert Koch-Institut (RKI) nicht eine Impfquote von mehr als 70 Prozent als Zielwert vor dem Herbst ausgegeben?

Spahns Ministerium gab am Dienstag auf Nachfrage des Tagesspiegel Aufschluss: Er habe mit „noch fünf Millionen Impfungen und mehr“ gemeint, dass es so viele Impfungen brauche, bis die vom RKI als Zielwert ausgegebene Impfquote erreicht ist, sagte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Bis dahin, dass ist den vorliegenden Zahlen zu entnehmen, braucht es aber insgesamt noch mehr als acht Millionen Impfungen.

Denn: In seinem epidemiologischen Bulletin, in dem Modellierer hochrechneten, wie sich Inzidenzen und die Intensivbettenbelegung bei bestimmten Impfquoten entwickeln, beschrieb das RKI folgendes, realistisches Szenario: Es bleibt bei weniger als 100 Fällen pro 100.000 Menschen über 12 Jahren in sieben Tagen, wenn die Impfquote der 12- bis 59-Jährigen 75 Prozent erreicht und die der Über-60-Jährigen 90 Prozent.

[Mehr zum Thema: Intensivmediziner Christian Karagiannidis im Interview: „Die Geimpften spielen aktuell auf den Stationen nahezu keine Rolle“ (T+)]

Derzeit liegt die Impfquote letzterer Gruppe bei knapp 85 Prozent und der Gruppe der 12- bis 59-Jährigen bei rund 61 Prozent. Um die Zielwerte zu erreichen, müssen sich von den älteren Menschen noch rund 1,5 Millionen Menschen in den kommenden drei Wochen immunisieren lassen. Aus der deutlichen größeren Gruppe der 12- bis 59-Jährigen müssen es etwas weniger als sieben Millionen sein.

Bereits vor fünf Wochen rechnete der Tagesspiegel hoch, wie viele Impfdosen im Schnitt bis Ende September täglich verabreicht werden müssen, damit der RKI-Zielwert für einen pandemisch gemäßigten Herbst erreicht wird. Diese Hochrechnung ging von knapp drei Millionen Impfdosen aus, die pro Woche an die 12- bis 59-Jährigen verabreicht werden müssten.

Inzidenz unter ungeimpften Kindern könnte bis 400 steigen

Damals, Ende Juli, lag das Niveau sogar noch bei rund 3,6 Millionen verabreichten Dosen pro Woche. In der vergangenen Woche wurden noch 1,3 Millionen Impfdosen verabreicht.

Auf Grundlage dieser Prognose sind die Appelle Spahns und nun auch der von Merkel umso verständlicher. Sollte die Impfquote nicht deutlich steigen, ist die Impfquote von 75 Prozent unter den 12 bis 59-jährigen nicht realistisch.

Das RKI teilte auf Nachfrage mit, es gäbe, „keine Hinweise, dass eine geringere Quote reichen könnte“. Was bei einer geringeren Impfquote blühen könnte, steht auch im epidemiologischen Bulletin des RKI aus dem Juli.

Dieses Szenario sieht schon deutlich weniger danach aus, dass es ein epidemiologisch sicherer Herbst und Winter in Deutschland wird: Es prognostiziert, dass die Sieben-Tage-Inzidenz im November und Dezember auf bis zu 250 steigen könnte unter den Menschen zwischen 12 und 59 Jahren – unter den ungeimpften jüngeren Kindern sogar auf bis zu 400 Fälle pro 100.000.

Außerdem liefe es bei einer Impfquote von unter 75 Prozent in der größten Altersgruppe nicht auf eine Zahl an Corona-Intensivpatienten von knapp 2000 hinaus, die nach Ansicht von Intensivmediziner Christian Karagiannidis beherrschbar wäre. Die Zahl der Patienten könnte dann dem RKI zufolge auf einen Wert steigen, der während der Pandemie in Deutschland noch nicht erreicht wurde: auf bis zu 6000 im November und Dezember.

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