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Wie alles begann: Neuankömmlinge im Lager Friedland in Niedersachsen

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Spätaussiedlerinnen und Aussiedler: Die unbekannten Deutschen

Eine große Studie widmet sich der Integration der Spätaussiedler:innen. Eine Erfolgsgeschichte, auch durch eine großzügige Politik. Lücken bleiben.

Sie sind die zweitgrößte Gruppe Eingewanderter, dicht hinter den Türkeistämmigen: Die 2,6 Millionen Aussiedler- und Spätaussiedler:innen, also jene, die seit den 1950er Jahren als deutsche "Volkszugehörige" - so die Formulierung im Gesetz - in die Bundesrepublik kamen, weil sie aus teils jahrhundertealten Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa vertrieben wurden oder dort unter kommunistischer Herrschaft nicht mehr leben wollten. Nach dem Fall der Mauer kamen auch Menschen aus der Sowjetunion dazu, unter anderem die jüdischen Kontingentflüchtlinge.

Trotz der großen Zahl sind sie fast unsichtbar. Jedenfalls hat sich die Forschung in den letzten zehn Jahren nicht mehr mit ihnen beschäftigt - und auch Politik und Öffentlichkeit nicht. Dabei kommen nach wie vor Jahr für Jahr einige Tausend ins Land, "etwas unter dem Radar", sagt Jan Schneider vom Sachverständigenrat Integration und Migration (SVR). 7000 Menschen waren es allein letztes Jahr.

Zusammen mit der Forschungsabteilung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat der SVR, der seit 2020 den Rang eines Rats der Weisen der Bundesregierung für Migrationsfragen hat, diese große Gruppe jetzt unter die Lupe genommen. Die Studie heißt "Integration gelungen? Lebenswelten und gesellschaftliche Teilhabe von (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedlern" und konnte erstmals eine große und nach Herkunftsregionen differenzierte Datenmenge auswerten.

Die 1990er produzierten frustrierte Jugendliche

Die Spätaussiedler sind nämlich, so Bamf-Wissenschaftler Axel Kreienbring, nach wie vor "ein relevanter Teil der Arbeit" seiner Behörde und Zielgruppe von deren Integrationsprogrammen - und dies, obwohl ihre soziale Integration "als gelungen gelten kann", wie Nils Friedrichs formuliert, einer der Autoren der Studie. Kriminelle junge "Russen", die in den 1990er Jahren die Schlagzeilen beherrschten, sind lange daraus verschwunden. Statistisch waren sie sowieso damals kaum fassbar.

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Die Kategorie "Migrationshintergrund" gab es damals noch nicht, die jungen Leute waren schlicht Deutsche. "Jugenddelinquenz in einem Ankommensprozess" nennen es die Wissenschaftler - einige von ihnen erforschten das Phänomen seinerzeit selbst: "Die Leute sahen sich als Deutsche, fühlten sich aber fremd und schlecht behandelt, sie erlebten Diskriminierung", sagt Schneider. Das habe sich inzwischen "ausgeschlichen", einerseits durch Integration in Deutschland, andererseits weil sie älter wurden.

Die Menschen, die mit einer deutschen Herkunftsgeschichte - und mit der Sicherheit, als Deutsche zu gelten und einen deutschen Ausweis zu bekommen - in den letzten Jahrzehnten in die Bundesrepublik kamen, leben nach wie vor vor allem im Westen der Bundesrepublik, haben den Daten zufolge starke Bindungen an Deutschland, gute bis beste Kontakte zu Deutschen ohne Migrationshintergrund und informieren sich vor allem aus deutschen Medien, noch häufiger als andere Eingewanderte, deren bevorzugte Zeitungen und Sender ebenfalls deutsche sind.

Für russischsprachige Medien sind die, die aus dem Sprachraum kommen, zwar teils erreichbar, aber keineswegs in ihrer Mehrheit. Ihre Sprachkenntnisse schätzen die meisten als gut ein, und.nur eine kleine Minderheit von vier Prozent fühlt sich stärker ihrem Herkunftsland verbunden als Deutschland. Diskriminierungserfahrungen berichten sie kaum noch, "Russlanddeutsche" beziehungsweise die, die aus der früheren Sowjetunion kamen, etwas häufiger als Menschen mit einer polnischen, rumänischen oder baltischen Herkunftsgeschichte. Sie sind mit der deutschen Politik zufrieden und sehr zufrieden mit der Demokratie.

Mehr Eigenheime, mehr Ehen

Die Studie enthält viele weitere Details über das Leben der 2,6 Millionen, die in den letzten 70 Jahren in die Heimat von Vorfahren zogen, die das Land teils Jahrhunderte zuvor verlassen hatten und die sich, so verlangte es das Bundesvertriebenengesetz nach wie vor "zum deutschen Volkstum" bekannten: Sie leben vor allem in mittleren Städten, in Metropolen zieht es sie ebenso selten wie in Kleinstgemeinden oder aufs Land. Sie wohnen häufiger als der deutsche statistische Durchschnitt in den eigenen vier Wänden, sind öfter verheiratet und leben in Familien.

Erst in der Generation der Mittzwanziger sind ihre Lebensformen nicht mehr unterscheidbar von der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Ihr Durchschnittseinkommen liegt zwischen dem der Bevölkerung ohne und der mit - sonstigem - Migrationshintergrund. Akademiker:innen sind unter ihnen seltener als in der Bevölkerung ohne, aber auch seltener als in der mit Migrationshintergrund. Politisch stehen sie weiterhin mehrheitlich den Unionsparteien nahe und wählen darüber hinaus öfter die "beiden Parteien, die sie explizit ansprechen", so Nils Friedrichs vom SVR, nämlich AfD und Die Linke.

Ihre ökonomische Situation ist allerdings je nach Migrationsgeschichte sehr verschieden: Während es vor allem den aus Polen und Rumänien Zugezogenen wirtschaftlich gut geht und sie gesellschaftlich im Schnitt perfekt Fuß gefasst haben - sie kamen allerdings auch früh -, sind viele postsowjetischen Migrant:innen in einer wirtschaftlich heikleren Situation. Ihr Pro-Kopf-Einkommen liegt noch unter dem anderer Migrant:innen.

Wer in den 1990ern aus der untergegangenen UdSSR einwanderte und heute vor dem Rentenbeginn steht, ist, so die Studie von Bamf und SVR, "stark von Altersarmut betroffen". Im Text wird erwähnt, dass das Grundrentengesetz im letzten Jahr hier schon gegensteuern sollte, die Forscher wagten bei Vorstellung ihrer Ergebnisse aber keine Prognose: "Wir können noch nichts dazu sagen, wie dem gegenzusteuern wäre", sagte Jan Schneider vom SVR.

Auch in anderer Weise sind die Spätausgesiedelten weiter eine Herausforderung der deutschen Integrationspolitik: So sind die Frauen der Gruppe in ganz besonderem Maße politisch desinteressierter als die Männer - nur 45 Prozent (Männer 60) geben an, sich "eher stark" oder "sehr stark" für Politik zu interessieren.

Sie glauben auch entsprechend kaum daran, dass ihr politisches Engagement oder ihre Wahlentscheidung wirklich etwas bewirken könne (Selbstwirksamkeit). Forscher Kreienbring vom Bamf verwies auf bereits laufende Programme für Frauen. Postsowjetische Migrantinnen und Migranten zeigen zudem, so die Studie, "vergleichsweise negative Einstellungen zu Geflüchteten".

Die privilegierten Eingewanderten

Die Erfolgsgeschichte, als die das Ankommen der Aussiedler- und Spätaussiedlerinnen zu sehen ist, ist wohl auch das Ergebnis einer "privilegierten Migration", heißt es im Text. In der Politik ihnen gegenüber übte sich Deutschland jahrzehntelang als liberales Einwanderungsland ein, das es für alle Ankömmlinge jenseits dieser ethnisch definierten Gruppe ("Volksdeutsche") lange nicht sein wollte:

Ihnen wurde sofort ein deutscher Pass ausgestellt, sie erhielten nicht unerhebliche finanzielle Mittel und, so die Studie, ihre Integration "wurde mit entsprechenden Angeboten – etwa Sprachkursen oder der Möglichkeit der Anerkennung von Bildungsabschlüssen – staatlich enger begleitet, als dies zur damaligen Zeit üblich war".

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