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Ein 13-Jähriger Junge trägt einen Sack mit Erntegut im türkischen Şanlıurfa.

© Unicef/Feyizoğlu

Soziologe beklagt falschen Fokus: „UN-Experten gehen Kinderarbeit mit der Verbotskeule an“

Weltweit müssen 160 Millionen Kinder schuften, viele riskieren ihre Gesundheit. Der Kinderrechts-Experte Manfred Liebel fordert einen Kurswechsel bei den Vereinten Nationen.

Als Anfang vergangenen Jahres die Corona-Pandemie losbrach und Regierungen auf der ganzen Welt Lockdowns verhängten, schrumpften Volkswirtschaften dramatisch: Geschäfte mussten schließen, Lieferketten brachen zusammen und der Tourismus kam zum Erliegen. Unzählige Familien gerieten infolge in wirtschaftliche Not und verarmten. Die Pandemiefolgen drohen nun, die Fortschritte im Kampf gegen Kinderarbeit zu untergraben, wie ein neuer Report der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Kinderhilfswerks Unicef zeigt.

„Wir verlieren im Kampf gegen Kinderarbeit an Boden, und das letzte Jahr hat diesen Kampf nicht einfacher gemacht“, sagte Unicef-Exekutivdirektorin Henrietta Fore. „Jetzt, im bereits zweiten Jahr mit weltweiten Lockdowns, sind viele Familien gezwungen, tragische Entscheidungen zu treffen. Wir fordern Regierungen und Entwicklungsbanken auf, vorrangig in Programme zu investieren, die Kinder aus Kinderarbeit herausholen und wieder in die Schule bringen können.“

160 Millionen Kinder arbeiten nach den neuen Zahlen der beiden UN-Organisationen weltweit – das ist fast jedes zehnte Kind. Mehr als die Hälfte dieser Kinderarbeiter lebt in Subsahara-Afrika, dazu zählen unter anderem Staaten wie Mali, Ghana und der Sudan. In den vergangenen vier Jahren sind weltweit 8,4 Millionen Kinderarbeiter hinzugekommen. Der Anteil der weltweit arbeitenden Kinder ist insgesamt gleichgeblieben, weil dieser Anstieg mit dem Bevölkerungswachstum zusammenfällt.

Ein gutes Drittel der Kinder geht nicht zur Schule. Kinderarbeit findet vor allem auf Äckern und Feldern in der Landwirtschaft statt – hier sind insgesamt 112 Millionen Kinder betroffen. Trotz Rückschlagen wegen der Pandemie wollen ILO und Unicef Kinderarbeit als Teil der internationalen Nachhaltigkeitsziele bis 2025 beenden.

Manfred Liebel, Kinderrechts-Experte und Professor an der Fachhochschule Potsdam, sieht die Strategie der Internationalen Arbeitsorganisation kritisch: „Die ILO ist zu sehr darauf fixiert, Kinderarbeit abzuschaffen statt die Arbeitsbedingungen der Kinder zu verbessern. Die UN-Experten moralisieren das Thema an Schreibtischen in Genf und gehen das Problem fast nur mit der Verbotskeule an.“ Viele Kinder wollten und müssten dem Soziologen zufolge ihre Familien jedoch unterstützen.

Verbote könnten Kinderarbeiter in die Illegalität treiben

Einige von der ILO unterstützte Aktionsprogramme gingen nach hinten los. „Ein Beispiel: Wenn Politiker auf Druck der ILO kinderarbeitsfreie Zonen schaffen wollen, schützen sie damit nicht die arbeitenden Kinder. Solche Maßnahmen drängen die Kinder stattdessen an den Rand und kriminalisieren sie.“ Das sei beispielsweise in Textilfabriken in Bangladesh sichtbar, wo Kinder auf internationalen Druck hin aus den Betrieben verschwinden müssen „und versteckt durch die Hintertür wieder reinkommen und unter noch schlechteren Bedingungen heimlich weiterarbeiten.“

Manfred Liebel leitet den Masterstudiengang zu Kinderrechten an der FH Potsdam.
Manfred Liebel leitet den Masterstudiengang zu Kinderrechten an der FH Potsdam.

© Andrea Hansen

Zudem unterschieden die ILO-Experten nicht genug zwischen Arbeitsformen wie selbstbestimmter Arbeit, Lohnarbeit oder sklavenähnlicher Arbeit. Selbstbestimmte Arbeit findet sich dort, wo Kinder beispielsweise Süßigkeiten auf der Straße verkaufen, Parkplätze bewachen oder Autofensterscheiben putzen – auch „informeller Sektor genannt“. Zu gesundheitsgefährdender und gefährlicher Arbeit zählt unter anderem der Bergbau oder das Militär.

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„Kinder kennen ihre Arbeitssituation genau und haben das Recht, dass man sie anhört – auch sie haben kein Interesse ausgebeutet zu werden“, sagt Liebel. Sinnvoller seien staatliche Regulierungen, die die Einkommenssituation von armen Familien verbessern und die Arbeitszeit von Kindern zu reduzieren. „2014 gab es in Bolivien ein Gesetz zur Regulierung der Kinderarbeit. Dabei sollten Kinder, Familien und Arbeitgeber gemeinsam absprechen, wie die Arbeitsbedingungen verbessert werden könnten.“ Auf Druck der ILO und der US-Regierung wurde das Gesetz 2018 wieder gekippt.

Staatliche Regulierungen in Bolivien gekippt

„Damit beseitigte Boliviens Regierung nicht nur ein fortschrittliches Gesetz, sondern jede Art von Schutz, der den Kindern gedient hätte. Das zeigt: Wenn die ILO und andere Organisationen sich nur auf die Abschaffung von Kinderarbeit fixieren, lässt man die Kinder alleine und illegalisiert die Unterstützung für ihre Familien“, warnt Liebel.

Dennoch befürwortet der Kinderrechts-Experte einige in dem UN-Bericht erhobene Forderungen von ILO und Unicef. Um Kinderarbeit als Krisenfolge zu verhindern, muss es nach Ansicht von ILO und Unicef finanzielle Hilfen für Familien in Notlagen geben. Kinder weltweit bräuchten eine kostenlose und hochwertige Schulbildung bis sie ins Berufsleben starten, zudem müsse jede Geburt registriert werden. Die Formalie soll sicherstellen, dass sie eine Identität haben und ihre Rechte genießen können.

Der 15-jährige Dalpesh Devada arbeitet in einer Ziegelei im indischen Rajasthan.
Der 15-jährige Dalpesh Devada arbeitet in einer Ziegelei im indischen Rajasthan.

© Unicef/Kolari

Liebel sieht auch Deutschland in der Verantwortung: „Um die Ausbeutung von Kindern zu verhindern und ihre Würde zu achten, wäre das Lieferkettengesetz ein sehr wichtiger Schritt. Doch zuletzt ist das Gesetz immer wieder verwässert worden.“

Lieferkettengesetz soll Ausbeutung verhindern

Zum Schutz der Menschenrechte will der Bundestag das Lieferkettengesetz am Freitag beschließen. Damit soll auch Ausbeutung in den Lieferketten wie in der Textilindustrie oder auf Kakaoplantagen vorgebeugt werden. Vor allem die Maschinenbauindustrie kritisiert das Gesetz, befürchtet eine riesige Bürokratie und Klagen gegen deutsche Unternehmen.

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Mehr Kinderarbeiter als Pandemiefolge sind laut den UN-Autor:innen des Berichts „keine ausgemachte Sache“, die Auswirkungen hingen von den politischen Reaktionen ab. „Neue Analysen gehen davon aus, dass bis Ende 2022 weitere 8,9 Millionen Kinder von Kinderarbeit betroffen sein werden, als Folge der durch die Pandemie verursachten steigenden Armut.“

Für ihre Hochrechnungen haben die Autor:innen des Berichts nach eigenen Angaben Daten von mehr als 100 nationalen Haushaltserhebungen verwendet, die zwei Drittel der weltweiten Kinder zwischen 5 und 17 Jahren abdecken.

Plan International Deutschland zeigt sich alarmiert

In den Ergebnissen zeichnen sich deutliche Unterschiede in den Altersgruppen ab: Während in den vergangenen vier Jahren weniger Kinder zwischen 12 und 17 Jahren in Kinderarbeit waren, mussten dafür umso mehr jüngere Kinder zwischen 5 und 11 Jahren arbeiten.

Ein Kind arbeitet bei einer Mine in einem Vorort von Ouagadougou in Burkina Faso.
Ein Kind arbeitet bei einer Mine in einem Vorort von Ouagadougou in Burkina Faso.

© Unicef/Dejongh

Für das Kinderhilfswerk Plan International Deutschland sind die neuen UN-Zahlen besorgniserregend. „160 Millionen Kinder verlieren ihr Recht darauf, unbeschwert aufzuwachsen, zu spielen und in die Kita oder zur Schule zu gehen. Das ist ein massiver Bruch von Kinder- und Menschenrechten“, sagte die Sprecherin Kathrin Hartkopf dem Tagesspiegel. 

„Kinderarbeit geht oft mit psychischen und physischen Belastungen einher, viele Kinder leiden unter Traumata oder sind chronisch krank.“ Häufige Folgen seien gebrochene Arme und Beine, Rückenschmerzen oder Hauterkrankungen. Auch tödliche Arbeitsunfälle oder Verätzungen durch Chemikalien seien Folge von Kinderarbeit. „Neben dem Lieferkettengesetz ist es auch wichtig, die Ursachen für Kinderarbeit zu betrachten: Armut, mangelnde Schulbildung oder bewaffnete Konflikte“, sagte Hartkopf.

Der Soziologe Manfred Liebel hat in seiner wissenschaftlichen Laufbahn Kinderarbeiter in verschiedensten Ländern untersucht. Er erinnert sich: „Ein Junge aus Kolumbien hat mir mal gesagt: Statt uns die Arbeit zu verbieten, müsste man die Armut verbieten.“

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