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Johannes Vogel (l) und Harald Christ, Bundesschatzmeister der FDP, haben keine Berührungsängste mit Sozialliberalem.

© Michael Kappeler/dpa

"Soziale Chancen" und "Umweltschutz wichtiger als Gewinn": Die FDP ist viel ampelkompatibler als sie tut

Das Grundsatzprogramm von 1971, die Freiburger Thesen, lesen sich als Blueprint für das angestrebte "progressive Bündnis". Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Es ist natürlich ein Zufall, dass sich genau jetzt, da die FDP ein „progressives Bündnis“ mit Sozialdemokraten und Grünen zu schmieden versucht, die Freiburger Thesen ihr 50. Jubiläum feiern. Aber der Zufall hat in diesem Fall ein exquisites Gespür für Timing.

Denn dieses denkwürdige und absolut nicht verstaubte Grundsatzprogramm der Partei vom 27. Oktober 1971 liest sich fast wie ein Blueprint für eine Ampel. Das Dokument, das die Handschrift großer Liberaler wie Karl-Hermann Flach und Ralf Dahrendorf trägt, war das intellektuelle Fundament des damaligen politischen Schwenks hin zur sozial-liberalen Koalition; für den gesellschaftlichen Aufbruch nach der Revolte von 1968. Und es war eine der Wenden der Liberalen, die sich damals von der Union emanzipierten.

„Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen“, steht dort geschrieben. Daneben findet sich eine Kritik des Kapitalismus. Und Freiheiten und Rechte „als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat“ wurden als nicht ausreichend eingestuft, stattdessen käme es auf „soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft an“.

Nimmt man diese Aussagen ernst, müssen die Liberalen gar nicht so viel aufgeben in einer Ampel, wie es der Vorsitzende Christian Lindner zu fürchten schien.

Viele jüngere Liberale haben keine Berührungsängste mit Sozialem

Stattdessen kann die FDP sich im Austausch mit den neuen Koalitionspartnern auf die eigenen sozialliberalen Traditionen besinnen und diese betonen. So beschwingt, wie Lindner derzeit auftritt, scheint es fast, als habe er diese Chance begriffen. Dabei haben die Vorarbeit dafür andere in der Partei geleistet. Vor allem jüngere Politiker wie der Sozialpolitiker Johannes Vogel, Ex-Juli-Chef Konstantin Kuhle oder auch Daniela Schmitt, Staatssekretärin in Rheinland-Pfalz. Und der frühere SPD-Politiker und jetzige FDP-Schatzmeister Harald Christ. Sie haben neue Konzepte zur Arbeit entwickelt und die Partei dabei etwas sozialdemokratisiert.

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Der junge Abgeordnete Lukas Köhler hat die liberale Umweltpolitik vorangebracht – auch wenn die Glaubwürdigkeit der Partei auf diesem Gebiet durch Lindners Ansprache an die Fridays-for-Future-Generation, Klimapolitik solle den Profis überlassen werden, zwischenzeitlich gelitten hatte. Aber wenn Vogel jetzt in leitender Position gleich in zwei Arbeitsgruppen mitsondiert, dann ist das eine Anerkennung seiner Sachkompetenz und wohl auch seiner sozialliberalen Linie.

Schon lange geht es darum, neue liberale Antworten für eine sich rasant veränderte Welt und Gesellschaft zu finden. Traditionelle liberale Anliegen wie der Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür ist in der Bundesrepublik recht gut verwirklicht, allen Corona-Unkenrufen zum Trotz.

Die FDP nahm als erste deutsche Partei Umweltschutz ins Programm

Angesichts wachsender Ungleichheit, bedrohlicher Monopolbildungen und der Macht sozialer Netzwerke, in denen das Individuum eher Schutz vor Privatunternehmen braucht, müssen die Liberalen längst andere Rezepte präsentieren als den Schwur „Der Markt regelt es“. So wie die liberalen Vordenker schon vor 50 Jahren erkannt hatten, dass sie ihren Freiheitsbegriff um eine soziale Komponente erweitern müssen, um auf Entwicklungen zu reagieren und an der Spitze des Fortschritts zu stehen.

Was die heutige FDP für sich beantworten muss: Will sie für den Kampf gegen den Klimawandel in der Steuer- und Wirtschaftspolitik flexibler werden? Dies ist einer der Knackpunkte der Koalitionsverhandlungen. Doch darauf geben die Freiburger Thesen keine Antwort. Denn als die FDP als erste deutsche Partei den Umweltschutz ins Programm aufnahm und revolutionär mit der Idee von der Freiheit des Menschen verknüpfte, stand der Klimawandel noch nicht in Zentrum der Politik.

Aber die Freiburger Thesen – ebenso wie die Streitschrift Karl-Hermann Flachs „Noch eine Chance für die Liberalen“ aus dem gleichen Jahr – enthalten vor allem auch die Botschaft: Die selbstkritische Hinterfragung der eigenen Maximen und ob man die übergeordneten Ziele erreicht – das ist Liberalismus.

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