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Kämpfen um die Zustimmung der Genossen: Martin Schulz und Andrea Nahles.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Sonderparteitag zur großen Koalition: Ja oder Nein - wohin die Entscheidung der SPD führt

An diesem Sonntag legen die Sozialdemokraten beim Parteitag in Bonn fest, auf welchen Pfad sie die deutsche Politik schicken. Das sind die Szenarien.

Von Robert Birnbaum

Ja oder Nein? Verhandlungen oder nicht? Wie an einer Wegscheide stimmt die SPD bei ihrem Sonderparteitag am Sonntag nicht nur über ihre eigene Zukunft, sondern auch über das politische Gefüge in Deutschland ab. Wir zeigen auf, was ein Ja zu einer großen Koalition, das auch noch kein endgültiges wäre, und was ein Nein zu bedeuten hätte. Minderheitsregierung, Neuwahlen - oder doch eine Neuauflage von Jamaika? Darum ginge es im zweiten Fall.

Wenn sie mit JA stimmen:

Warum Eile geboten ist

Fürs Aufatmen bleibt Union und SPD wenig Zeit – schon Montagabend sehen sich die Spitzen der Parteien dann wieder. Die 28 Seiten Sondierungsvereinbarung lesen sich zwar streckenweise schon wie ein Koalitionsvertrag. Aber aus sachlichen wie politischen Gründen folgen einem prinzipiellen Ja des SPD-Parteitags die nächsten, diesmal förmlichen Koalitionsverhandlungen. Sachlich ist das sinnvoll, weil sich die Sondierer auf die Knackpunkte zwischen CDU, CSU und SPD konzentriert haben und ganze Themenfelder gar nicht oder nur in groben Umrissen behandelten.

Politisch legen vor allem die Sozialdemokraten Wert auf weitere Verhandlungen. Führende SPD-Politiker haben der eigenen Basis vor dem Parteitag versprochen, im zweiten Durchgang noch mehr SPD-Programm durchzusetzen, um den Skeptikern die Zustimmung zu erleichtern. Die Verhandlungsführer, Parteichef Martin Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles, haben allerdings ebenso wie Angela Merkel und Horst Seehofer darauf hingewiesen, dass es grundsätzliche Nachbesserungen bei den Sondierungsthemen nicht geben werde. Eine Bürgerversicherung wird die SPD der Union also weiterhin nicht abtrotzen, auch einen höheren Spitzensteuersatz oder wesentliche Änderungen in der Flüchtlingspolitik sind ausgeschlossen.

Wo Gefahr lauert

Andererseits – je knapper die Abstimmung beim SPD-Parteitag ausgeht, desto stärker wird die Nachverhandlungsposition der SPD. Das scheinbare Paradox erklärt sich dadurch, dass die SPD-Führung sich selbst eine zweite hohe Hürde aufgestellt hat: Muss der Parteitag die Sondierung absegnen, muss einem Koalitionsvertrag gleich die ganze SPD-Basis zustimmen. Ein knappes Parteitagsvotum wäre ein ziemlich schlechtes Omen für diese Mitgliederbefragung – und Grund für die Union, der anderen Seite noch ein paar neue Argumente für dieses Votum mitzugeben.

Bekommt die SPD auch von den Mitgliedern grünes Licht, wäre der lange Weg frei für eine neue Regierung. Wenn alles glatt läuft, kann sich Angela Merkel vor Ostern zu ihrer vierten Kanzlerwahl stellen. Ob sie regulär bis 2021 im Kanzleramt bleibt, steht dann auf einem anderen Blatt.

Wenn sie mit Nein stimmen

Juso-Chef Kevin Kühnert gehört zu den Kritikern einer Groko.
Juso-Chef Kevin Kühnert gehört zu den Kritikern einer Groko.

© Michael Kappeler/AFP

Wenn sie mit NEIN stimmen:

Was eine Minderheitsregierung bedeutet

SPD: Ist Opposition Mist?

Martin Schulz kann gleich den Zug nach Würselen nehmen, aber auch dem Rest der SPD-Führung bliebe nur der komplette Neustart. Ein Nein des Parteitags wäre ein glattes Misstrauensvotum gegen das Parteitagspodium. Das Problem ist nur, dass der Gang in die Opposition die Sozialdemokraten keineswegs in ruhige Zeiten führen würde, in denen sie sich gemächlich eine inhaltliche und personelle Erneuerung erarbeiten könnten. Sie muss vielmehr damit rechnen, dass eine Minderheitsregierung unter Führung von Angela Merkel nur eine kurze Episode bleibt. Der Bundespräsident ist nicht gezwungen, eine mit Minderheit gewählte Kanzlerin zu ernennen. Tut er es doch, kann diese Kanzlerin mit einem planvoll verlorenen Vertrauensvotum jederzeit Neuwahlen erzwingen. Die SPD brauchte auf die Schnelle eine neue Nummer Eins.

Union: Minderheit ist Mist!

CDU und CSU haben auf den Sonntagabend ihre Führungsgremien einberufen. Platzt die Hoffnung auf eine Regierungskoalition, bleibt ihnen freilich erst einmal nicht viel mehr als festzuhalten, dass Angela Merkel als geschäftsführende Kanzlerin am Montag mit dem Bundespräsidenten die neue Lage erörtert. Der muss allerdings irgendwann jemanden zur Kanzlerwahl vorschlagen. Also wird sich, wenn sie nicht vorher entnervt die Brocken hinwirft, Merkel einer längeren Prozedur unterziehen müssen. Denn Frank-Walter Steinmeier darf nicht einfach Neuwahlen ausrufen – diesen schnellen Weg versperrt nach den schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik das Grundgesetz. Vorher muss deshalb der Bundestag wenigstens versuchen, eine Kanzlerin oder einen Kanzler zu wählen.

Das Verfahren, das Artikel 63 vorschreibt, ist langwierig. In einem ersten Wahlgang braucht es die „Kanzlermehrheit“, also die Mehrheit aller Mitglieder des Parlaments. Danach hat der Bundestag zwei Wochen Zeit für beliebig viele neue Anläufe. Dafür muss das Parlament einen Kandidaten vorschlagen – genauer: mindestens ein Viertel seiner Mitglieder. Das schafft als Fraktion nur die Union. Auch in der zweiten Phase gilt Kanzlermehrheit.

Wahrscheinlich gäbe es deshalb gar keinen zweiten Wahlgang, sondern nach Ablauf der zwei Wochen den dritten. Dort wird Kanzler, wer die einfache Mehrheit der Stimmen bekommt. Danach hat der Präsident wieder das Wort: Er muss in sieben Tagen Bedenkfrist entscheiden, ob er die Gewählte/den Gewählten ernennt oder Neuwahlen in 60 Tagen ansetzt. Dass er niemand gegen dessen Willen zur Minderheitsregierung zwingt, hat Steinmeier deutlich gemacht.

Eine offene Frage ist allerdings, ob Merkel sich auf das Experiment nicht für begrenzte Zeit trotzdem einließe. Neuwahlen und neue Koalitionsanläufe würden ja mindestens noch ein Vierteljahr kosten. Für zeitkritische Entscheidungen vor allem in Europa könnte sich das allzu lange hinziehen. In der EU beginnen gerade die Verhandlungen über den nächsten Haushalt – eingeschlossen die heikle Frage, wie die Gemeinschaft künftig mit unsolidarischen Mitgliedern umgeht. Der Termin für den Brexit rückt so unerbittlich näher wie der für die Europawahl 2019, in der dann alle Reformpläne erst mal auf Eis liegen.

Mit SPD und Grünen stünden für einen proeuropäischen Kurs im Sinne von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von Fall zu Fall Partner bereit. Andererseits – eine Minderheitskanzlerin Merkel müsste weit mehr Rücksicht auf die CSU nehmen als in einer festen Koalition, in der auch die europaskeptischsten Bayern an den Koalitionsvertrag gebunden sind.

Eine Minderheitsregierung bliebe aus Unionssicht Notlösung. Nur eine Gruppe in CDU und CSU kann ihr viel abgewinnen – alle die, die es gar nicht abwarten können Merkel los zu werden. Denn je länger sich eine Hängepartie hinzieht, desto stärker wird deren heimliches bestes Argument: Da sowieso alle davon ausgehen, dass die Ära Merkel 2021 endet – dann kann man, wenn ihr eh kaum noch Zeit zum regelrechten Regieren bleibt, doch auch gleich früher den Wachwechsel vollziehen.

Wohin Neuwahlen führen

SPD: Wahlkampf für eine Nicht-Regierungspartei

Es gibt komplizierte und ganz komplizierte Aufgaben. Eine SPD, die sich gerade der Regierungsbildung verweigert hätte, kurzfristig in einen Wahlkampf zu führen, fällt unter „ganz kompliziert“. Auch die wildesten #NoGroko-Aktivisten rechnen nicht damit, dass ihre Partei 2018 dramatisch besser abschneiden würde als 2017. Wer auch immer Martin Schulz als Kandidat nachfolgte, müsste sich mit dem alten Problem herumschlagen, dass er keine plausible Machtperspektive anbieten kann. Nach dem Jamaika- Ausstieg der Christian-Lindner-FDP erscheint eine Ampel erst recht unvorstellbar, auf Rot-Rot-Grün zu spielen wäre ziemlich riskant. Viel spricht dafür, dass die SPD mit einem Neuwahl-Kurs eher auf das Projekt 18 von Christian Lindners Vorgänger Guido Westerwelle hinsteuern würde als einer neuen Morgenröte entgegen.

Union: Wahlkampf zwischen Gestern und Heute

Aber auch für die Union ist der Gedanke an Neuwahlen alles andere als reizvoll. Merkel hat sich schon Ende 2016 nur mit Bedenken zu einer Kandidatur entschieden – der Wahlausgang am 24. September mit seinem historischen Tiefstand auch für die Union gab den Bedenken recht. Andererseits ist auch den wildesten Jungrüden im CDU-Rudel klar, dass sie die Leitwölfin zwar immer mal wieder zwicken, aber noch nicht in offenem Kampf besiegen können. Wenn Merkel nicht selbst aufgibt – was in der CDU-Führung mancher für denkbar, aber derzeit keiner für wahrscheinlich hält –, stünde ihr die fünfte Kanzlerkandidatur bevor, Kurzwahlkampf und Fernsehduell inklusive.

Theoretisch wäre ihre Ausgangsposition nicht mal schlecht. Dass die Flüchtlingspolitik die nächste Wahl noch einmal so prägt wie die letzte, ist doch eher unwahrscheinlich. Dass es der AfD gelingt, sich ersatzweise die Enttäuschung über eine Nicht- Regierungsbildung zunutze zu machen, ist so sicher auch nicht. Gut möglich, dass im Gegenteil selbst zeitweise Protestwähler dann lieber langsam mal auf Nummer Sicher setzen. Zugleich kann sich die Union – neben den Grünen – als einzige voll regierungswillige Formation dem Wähler präsentieren.

Doch genau deshalb stünde für CDU und CSU die Bündnispartnerfrage ähnlich ungelöst im Raum wie für die SPD. Sicher, es könnte am Ende plötzlich für Schwarz-Gelb reichen oder für Schwarz-Grün. Aber das setzte recht massive Verschiebungen an der Urne voraus. Bleibt der Wählerwille so, wie er jetzt ist, kämen bloß wieder die gerade gescheiterten Bündnisse in Frage.

Jamaika, zum Zweiten

FDP: Doch besser regieren?

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 hat CDU, CSU und SPD kalt erwischt, das Jamaika-Aus Union und Grüne – beim Aus für eine große Koalition wäre zur Abwechslung mal Christian Lindner dran. Der FDP-Chef hat sich noch am Freitag dagegen verwahrt, dass er sein Nein überdenken könnte. Aber damit, sich selbst zum Helden des Verzichts zu verklären, wäre es im Fall des Falles nicht mehr ohne Weiteres getan.

Denn Lindner muss damit rechnen, dass nach Martin Schulz dann er vom Bundespräsidenten in die Pflicht genommen würde. Frank-Walter Steinmeier ist ein nüchterner Mensch. Dem muss man gar nicht erst mit Reklameprosa kommen, dass irgendwie in den Jamaika-Gesprächen der Aufbruch gefehlt hätte. Auch Vertrauensmangel wirkt im harten Licht staatspolitischer Verantwortung schnell kleinlich.

Die Grünen jedenfalls signalisieren schon frohgemut, dass an ihnen ein zweiter Anlauf nicht scheitern würde. Die CDU würde Lindner auch nicht die Tür weisen. In der CSU müssten sich manche umorientieren – Seehofer und der Ministerpräsidentenkandidat Markus Söder vorweg, die neuerdings der Lindner-FDP alles Böse wünschen. Aber mit taktischen Kehrtwenden kennen sie sich im Bayerischen ja aus.

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