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Besatzung eines Krankenwagens mit einem Covid-19-Patienten in Herten (Archivbild)

© dpa/Fabian Strauch

Soll es eine Triage für Ungeimpfte geben?: Schuld und Strafe haben keinen Platz in der Medizin

Mediziner dürfen keine Entscheidungen aufgrund von Alter, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder Behinderung treffen. Aber welches Kriterium gilt? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Deutschland, 47. Kalenderwoche 2021. Die Kanzlerin spricht von einer „hochdramatischen Situation“ und warnt vor einer „Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten“. Krankenhäuser in mehreren Bundesländern sind überfüllt und nicht mehr in der Lage, alle Intensivpatienten, für die es kein freies Bett mehr gibt, in andere Kliniken zu verlegen.

Zwei der bundesweit fünf Versorgungsstationen – „Kleeblätter“ genannt – rufen den Notstand aus. Mehr als 100.000 Menschen sind seit Beginn der Pandemie an oder mit Corona gestorben. Die Zahl der Neu-Infizierten steigt täglich auf neue Rekordwerte. Operationen müssen verschoben werden, Intensivbetten werden knapp, es fehlt an Pflegepersonal.

Im Landkreis Rosenheim liegt der Inzidenzwert bei rund 1000, die Impfquote ist mit rund 56 Prozent niedrig. Mehr als 500 Ärzte und Mediziner aus der Region haben eine ganzseitige Anzeige geschaltet und schildern ihre Situation. „Die lebenssichernde Versorgung, auf die wir uns bisher immer verlassen konnten, existiert nicht mehr! Der Zusammenbruch droht Realität zu werden!“

Uns droht ein „schlimmes Weihnachtsfest“

In der Vorwoche prognostiziert Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts, ein „schlimmes Weihnachtsfest“ und warnt vor einer fünften Welle. Gernot Marx, der Präsident der Vereinigung für Intensivmedizin, sagt, die Corona-Lage sei „nicht mehr unter Kontrolle“. Denn aus den Infektionszahlen von heute folgen die Zahlen der übermorgen benötigten Beatmungsgeräte und Intensivbetten.

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Immer eindringlicher wird nun vor einer Triage gewarnt. Sie tritt ein, wenn die Zahl der Schwerkranken die Kapazitäten der Krankenhäuser übersteigt. Dann muss entschieden werden, wem bevorzugt geholfen werden soll. Für die Betroffenen, aber auch für Ärzte, Pfleger und Angehörige ist das ein Alptraum.

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Mediziner dürfen nicht diskriminieren. Sie dürfen keine Entscheidungen aufgrund von Alter, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Vermögen oder Behinderung treffen. Aber welches Kriterium gilt sonst?

Martin Hoffmann, der an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Philosophie unterrichtet, plädiert für eine Bevorzugung von Geimpften gegenüber Ungeimpften. Geimpfte müssten in einer Triage gegenüber Ungeimpften priorisiert werden, schreibt er in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Gegen eine ungleiche Verteilung der Pandemierisiken

Hoffmann beruft sich auf das „Prinzip fairer Chancengleichheit“. Es besagt, dass individuelle Lebenschancen in einer Gesellschaft fair auf ihre Mitglieder verteilt werden müssen. Da sind auf der einen Seite die Geimpften, die ein individuelles Risiko eingingen und damit das kollektive Risiko der Infektion sowie der Überlastung der Intensivstationen senken würden. Auf der anderen Seite stehen die Impfunwilligen, die rund 90 Prozent der wegen Corona behandelten Intensivpatienten ausmachten und einen kausalen Beitrag zum Entstehen einer Triage geleistet hätten.

Wer unter diesen Bedingungen Geimpfte und Ungeimpfte gleichstelle, schreibt Hoffmann, ignoriere sowohl das individuelle Risiko, dass der Geimpfte durch die Impfung in Kauf genommen habe, als auch den kausalen Beitrag, den der Geimpfte zur Vermeidung der Triage leiste. „Deshalb würde eine Gleichstellung zu einer ungleichen Verteilung der Pandemierisiken führen.“

Sehr viel vorsichtiger, in der Tendenz aber ähnlich äußert sich die Bonner Medizinethikerin Annette Dufner. „Unter dem Strich glaube ich, dass sich für die Beachtung des Impfstatus in einer überfüllten Intensivstation durchaus argumentieren ließe“, sagt sie. Die Auswahl der Patienten hänge auch davon ab, wie breit das Solidaritätsprinzip zu verstehen sei.

Wem wird am meisten geholfen?

Dem widerspricht energisch der Medizinethiker Jochen Vollmann von der Bochumer Ruhr-Universität. Der Impfstatus dürfe kein Entscheidungskriterium bei der Zuteilung begrenzter Ressourcen im Gesundheitswesen sein, sagt er in der „Rheinischen Post“. Bei gleicher Dringlichkeit sei aus medizinethischer Sicht entscheidend, welchem Patienten in der akuten Notsituation durch eine intensivmedizinische Behandlung am meisten geholfen würde.

Auch Alena Buyx, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, ist strikt gegen eine Triage für Ungeimpfte. „Es gilt kein Schuldprinzip bei lebensrettenden Maßnahmen im Gesundheitswesen“, sagte sie dem Tagesspiegel. „Lebensrettende Maßnahmen vorzuenthalten, weil der Zustand vermeidbar gewesen wäre, widerspricht wichtigen ethischen Prinzipien der Medizin.“ Ein zentrales Kriterium in einer Triage sei die „direkte Überlebenswahrscheinlichkeit“ von Infizierten auf der Intensivstation. Je höher diese sei, desto besser könne der Anspruch auf ein knappes Gut begründet werden.

Aufgrund der anhaltenden Debatte, ob der Impfstatus ein Entscheidungskriterium in einer Triage sein darf, hat die „Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ – in der Experten aus sieben Fachgesellschaften vertreten sind -, die im Frühjahr 2020 veröffentlichte „Leitlinie zur Priorisierung und Triage bei akuter Ressourcenknappheit“ jetzt aktualisiert. Eine fehlende Impfung könne „kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen darstellen“, heißt es. Eine Priorisierung knapper akutmedizinischer Ressourcen nach dem Impfstatus sei „nicht akzeptabel“.

Ein ungeimpfter 70-Jähriger ohne Vorerkrankungen

Allerdings gibt es eine Grauzone. Wenn sich die Behandlungsdringlichkeit eines Notfallpatienten an dessen Überlebensaussichten bemisst, kann der Impfstatus in der Gewichtung in einigen Fällen durchaus betrachtet werden.

Erik Bodendieck, der Präsident der sächsischen Landesärztekammer, sagte am Montag im Deutschlandfunk: „Der Ungeimpfte hat auf alle Fälle, wenn er an die extrakorporale Beatmung muss, die sogenannte ECMO, eine sehr schlechte Überlebenschance.“ Geimpfte hätten eine bessere Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung. Deshalb müssten sie priorisiert werden.

In der Praxis heißt das aber auch: Ein ungeimpfter 70-Jähriger ohne Vorerkrankungen kann auf der Intensivstation eine höhere akute Überlebenswahrscheinlichkeit haben als ein geimpfter 60-Jähriger mit schweren Vorerkrankungen. In diesem Fall müsste also der Ungeimpfte bevorzugt werden.

Der Impfstatus eines lebensbedrohlich Infizierten darf in Betracht gezogen werden, aber nur als ein Kriterium unter vielen Kriterien und nur als rein medizinisch relevante Bemessungsgrundlage seiner Überlebenswahrscheinlichkeit. Begriffe wie Schuld, Kausalität, Verursacherprinzip oder Solidarität haben in einer Triage absolut keine Rechtfertigung.

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