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Soldatenfriedhof Smolensk: Ruhe im Frieden

Sie haben vergilbte Fotos dabei, die sich ähneln, und Todesnachrichten, in denen immer dasselbe steht: „... für Führer, Volk und Vaterland“. Wie zwei Geschwister auf einem Friedhof für deutsche Kriegsgräber ihren Vater finden – und merken, dass sie Kinder geblieben sind.

Sie haben sehr lange gewartet. Warten müssen. „Ich kann einfach nicht den Schrei vergessen von meiner Mutter damals, als sie den Brief bekommen hat“, sagt Wolfgang Richter jetzt und beginnt zu schluchzen. Auch seiner Schwester Gisela Strache neben ihm kommen die Tränen. „Sieh ma Papa“, sagt sie und blickt auf das Gras zu ihren Füßen, „ham wa’s doch noch geschafft.“

Die Geschwister sind den weiten Weg aus Berlin-Britz bis nach Duchowschina gekommen, um ihrem Vater diesen Satz sagen zu können. 71 Jahre ist es her, dass Herbert Richter, Vater eines Sohnes, die Geburt der Tochter wird erwartet, im Alter von 30 Jahren auf der Straße von Smolensk nach Duchowschina auf eine russische Mine fuhr und starb. Nun stehen seine beiden Kinder an diesem heißen Augusttag inmitten einer leicht abfallenden, von Birkenwäldchen eingerahmten Wiese, über ihnen der weite russische Sommerhimmel, unter ihnen die Gebeine von 30 000 Wehrmachtssoldaten. Die Stelle, an der die sterblichen Überreste Herbert Richters liegen, ist durch einen Metallstift und ein Namensschildchen markiert. Die Kinder haben es gerade noch rechtzeitig geschafft, „wo wir selber schon fast am Ende stehen“. Und sie haben eine rosafarbene und eine rote Rose in den Boden gesteckt.

Um sie herum auf dem fünf Hektar großen Areal sitzen und knien alte Menschen aus Deutschland und aus Österreich im Gras und nehmen Abschied von denen, die sie nicht oder fast nicht gekannt haben.

In fünf Bussen sind Gisela Strache, Wolfgang Richter und weitere Soldatenkinder am Samstag von Moskau nach Smolensk gefahren worden und weiter zu einem Ort, an dem der 500 000. deutsche Soldat in Russland beigesetzt werden soll. Das ist auch Verteidigungsminister Thomas de Maizière wichtig genug, um persönlich zu erscheinen. Die Drohnenaffäre hat er in der Hauptstadt zurückgelassen. Fünf Särge, bedeckt mit einer deutschen Fahne, stehen neben einer Grube in Duchowschina. Und vor dem Minister, auf grünen Plastikstühlen, haben der Kommandeur der russischen Landstreitkräfte, dem er für seine Unterstützung danken muss, sowie hunderte deutsche Rentner Platz genommen, die sich gerade von ihren Vätern verabschiedet haben.

Über die Soldaten zu sprechen, die für das Falsche gekämpft und ihr Leben dabei verloren haben, ist immer noch heikel. Bei einer ähnlichen Gedenkveranstaltung erlaubte sich ein Staatssekretär, von der „Schuld“ der Soldaten zu sprechen. Der Protest der Angehörigen war laut.

Mit dem großen Krieg im Osten sind die Deutschen noch nicht fertig, vor allem jene aus der Kindergeneration, die persönlich unter den Langzeitfolgen gelitten haben: den toten Vater, die Vertreibung, die Bombardierungen, die Vergewaltigungen nach dem Einmarsch der Roten Armee und schließlich die Teilung der Heimat. Aber in den Bussen nach Smolensk gibt es den Deutschlehrer aus Duisburg, der nach seiner Pensionierung für zwei Jahre nach St. Petersburg ging und an einer Schule deutsche Literatur unterrichtete. Es gibt da den Bayern aus Rothenburg ob der Tauber, der seit 1991 schon 30-mal in der Partnerstadt Susdal war und keine Zweifel hat: „I sog immer, von der Mentalität san die Russn uns näher wia die Franzosn.“

Aber viele haben auch Berührungsängste. „Russland“, sagt Richter, der mit seiner Familie im Sommer 1945 in den Gewehrlauf eines Rotarmisten schauen musste, weil sie ihre Tante nicht ausliefern wollten, „das ist für mich immer noch Feindesland.“ Richter schimpft später darüber, dass sein Minister ausdrücklich den Bürgern von Duchowschina dafür dankt, dass sie „ihre Herzen geöffnet“ und den Friedhof vor den Toren ihres Städtchens zugelassen haben. Mit den Worten des russischen Heeresführers Alexander Suworow mahnte de Maizière: „Der Krieg ist erst dann zu Ende, wenn der letzte Soldat begraben ist.“

Das Feld bei Smolensk ist der letzte von 22 Sammelfriedhöfen

Vor 70 Jahren war an ordentliche Bestattungen nicht zu denken. Die Gefallenen wurden von der sich zurückziehenden Wehrmacht auf zehntausende Friedhöfe verteilt und provisorisch begraben. So blieben die Gebeine von knapp eineinhalb Millionen Wehrmachtssoldaten in russischer Erde. Während Deutschland sich schon bald nach Kriegsende mit Ländern wie Frankreich und Italien darauf einigen konnte, die Soldaten auf Sammelfriedhöfe „umzubetten“, stieß der Volksbund Kriegsgräberfürsorge in der Sowjetunion auf Ablehnung. Die sowjetischen Behörden antworteten auf Anfragen knapp, aber eindeutig: Auf dem Gebiet der Sowjetunion würde es keine Gräber von deutschen Soldaten geben.

Aber die Deutschen wären ja nicht die Deutschen gewesen, hätten sie nicht auch während schwerster Kämpfe die Lage jeder Grabstätte exakt kartiert. Die Blockade endete erst 1992. Da fand Helmut Kohl mit Boris Jelzin zu einem Abkommen, das die Deutschen dazu verpflichtete, die russischen Kriegsgräber in ihrem Land zu pflegen, im Gegenzug sollten sie ihre eigenen Soldaten in Russland bergen und ihnen auf Sammelfriedhöfen eine würdige letzte Ruhestätte geben dürfen.

Für die Russen ist das ein wunder Punkt. Als die Deutschen nach 1992 kamen, ihre Toten bargen und begruben, fragten sich viele Russen plötzlich, wo eigentlich ihre eigenen Soldaten liegen. 26 Millionen Kriegstote hatte die Sowjetunion zu verzeichnen, aber weil die offizielle Erinnerung lange Jahre vor allem dem großen Sieg gelten sollte und nicht den Opfern, gibt es bis heute nur wenige Ehrenfriedhöfe. Oft wurden die toten Rotarmisten auf den Schlachtfeldern liegen gelassen oder notdürftig verscharrt, und dort befinden sie sich bis heute. Erst seit einigen Jahren gibt es immer mehr Studenten und Schüler, die sich freiwillig in Wolgograd, rund um St. Petersburg, in Rschew oder Kursk auf die Suche nach jenen machen, die ihr Land damals verteidigten. In Reschew etwa machten es die Bewohner zur Bedingung, dass ein russischer Kriegsfriedhof eingerichtet würde, bevor die Deutschen einen bekämen.

Das Feld bei Smolensk ist der letzte von 22 Sammelfriedhöfen, die der Volksbund in Russland eröffnet. Ein Mann, der sich dagegen sträubte, ist Alexej Rusakow. Der 60-jährige Russe trägt einen Schnauzbart, ist Kommunist und Mitglied des Bezirksrats. „Wir sind nicht Rschew“, sagt er in einem Hinterzimmer des Kinos von Duchowschina, in dem er sich einen Kaffee genehmigt. Er meint damit den großen Friedhof einige hundert Kilometer Richtung Moskau, den es schon seit 2002 gibt. „Da haben sich zwei Armeen ein Jahr lang abwechselnd über die Wolga gejagt“, sagt Rusakow. „Aber Duchowschina war zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage unter Besatzung, und die Menschen, die hier leben, haben die Gräueltaten der Deutschen miterlebt und erinnern sich daran.“ Rusakow berichtet von den 14 Dörfern im Bezirk Duchowschina, deren Bevölkerung von deutschen Einheiten bestialisch ermordet wurde, meist als Vergeltung für Partisanenangriffe. 38 000 Einwohner hatte der Bezirk vor dem Krieg, 1943 lebten noch 14 000 Menschen. Beim Einmarsch nahmen die Deutschen auch Rusakows Großvater mit. Die Familie sah ihn nie wieder.

Rusakow hat keinen Hass auf die Deutschen, aber er meint: „Die Zeit ist noch nicht gekommen.“ 2009, als die Pläne für den Friedhof bekannt wurden, initiierten er und seine Parteigenossen ein Referendum. Doch es wurde von den Behörden blockiert, und der damalige Bürgermeister unterschrieb schnell alle nötigen Papiere, um den Weg für den Friedhof frei zu machen.

Über die Straßen von Duchowschina patrouillieren an diesem Tag Sondereinheiten der Polizei, an Straßensperren werden Einheimische abgewiesen. „Sie haben Angst vor Störaktionen der Menschen“, sagt Rusakow. Dann führt er zu einem zweistöckigen Backsteinhaus und zeigt nach oben. In weißen, nur leicht verwischten Lettern ist dort noch heute „Kommandantur“ zu lesen. „Ein kleines Andenken an den Besuch Ihrer Vorfahren“, sagt Rusakow zum Abschied.

Die Idee ist: den Menschen einen Ort der Trauer geben

In den Bussen werden vergilbte Fotos herumgereicht, sie ähneln einander sehr. Der Vater beim Heimaturlaub mit dem Neugeborenen auf dem Arm. Der Vater im weißen Kampfanzug vor einem zugeschneiten russischen Bauernhaus. Die Briefe vom Kompanieführer mit den immer gleichen Versatzstücken: „... den Heldentod fand“, „von einem Granatsplitter getroffen und sofort tot“, „... besondere Beliebtheit bei den Kameraden“, „... für Führer, Volk und Vaterland“.

Die Idee hinter den großen Friedhöfen ist es, den Menschen einen Ort der Trauer zu geben, damit sie endlich mehr als die Todesurkunden und ein paar vergilbte Fotos haben, damit sie Abschied nehmen können und vielleicht ein Kapitel zu Ende geht. „Aber wissen Sie was“, hatte Wolfgang Richter schon vor seinem Aufbruch in Berlin, im idyllischen Garten seines kleinen Häuschens, gesagt, „die Zeit heilt die Wunden nicht. Je länger ich lebe, desto mehr reißt die Wunde auf, desto schmerzhafter wird der Gedanke an den Vater.“

Jetzt, 1500 Kilometer weiter östlich, als Richter langsam den staubigen Weg vom Friedhof zu den Reisebussen schreitet, ist er glücklich, dass er gekommen ist. Auch wenn er vor dem Besuch des Grabes tagelang Angst hatte und nun erschöpft ist.

Hat er in diesem Moment mit einem Kapitel abgeschlossen?

„Nee, glaub ich nicht“, sagt er.

Da kommen ihm wieder die Tränen. Er denkt an Mutters Schrei, an den Brief mit der Todesnachricht. Fünf Jahre alt war er damals, und seine Kindheit war vorüber.

Die Überreste von 70 000 Wehrmachtssoldaten werden einmal auf dem Friedhof von Duchowschina liegen. Damit wäre er der weltweit größte deutsche Soldatenfriedhof. Bis 2018 ist die Sucharbeit des Volksbundes finanziell gesichert, dann wird wohl der Großteil derer gefunden sein, die nach all den Jahren noch zu finden waren.

Ein altes russisches Mütterchen im geblümten Kopftuch steht während der gesamten Zeremonie ein paar Meter vom Mikrofon entfernt. Sie hat es als eine der wenigen aus Duchowschina durch die Absperrung geschafft. 1937 wurde sie in einem nahen Dorf geboren. „Franz und Wilhelm“, wie sie sich erinnert, hatten in ihrem Haus Quartier bezogen. „Sie waren gut zu uns, andere waren Bestien“, erzählt sie. Vielleicht würde sie gerne mit einem der vielen Deutschen sprechen, die in ihre Heimat gekommen und so alt sind wie sie selbst. Aber wie? Nach fast drei Stunden macht sie sich ruhigen Schrittes auf den Heimweg, vorbei an einem Spalier russischer Soldaten.

Im Museum von Duchowschina gibt es für ein paar Rubel eine Broschüre über die Gräueltaten der Deutschen zu kaufen. Finanziert wurde sie von den Hinterblieben der Ermordeten. Der erste Satz lautet: „Je weiter die Schreckenszeit des Krieges zurückliegt, desto schärfer wird die Erinnerung.“

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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