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Politik: Sinti was ist Klischee, was Realität ? und Roma —

Seit 100 Tagen erinnert in Berlin ein Mahnmal an den Völkermord an Europas größter Minderheit. Massive Vorurteile begleiten und behindern sie bis heute. Doch etwas bewegt sich. Ein Blick zurück. Und nach vorn.

Der Tenor der Integrationsdebatte scheint eine andere Sprache zu sprechen, ebenso der Verkaufserfolg von Büchern, die in der wachsenden Vielfalt Deutschlands eine existenzielle Gefahr sehen: Die Wirklichkeit jenseits von Buch- und Zeitungspapier ist längst weiter. Deutschland und Europa werden vielfältiger, und Politik, Institutionen und vor allem der Alltag reagieren längst auf diese neue Wirklichkeit. Auf breiter Front treten Gruppen, denen bisher der Rand zugewiesen war – keineswegs nur Minderheiten – in die Mitte des gesellschaftlichen Spielfelds und fordern ihre Rechte, Migranten – und Muslime, deren Weg der in Berlin forschende Wissenschaftler Jonathan Laurence mit dem der Juden in Preußen Anfang des 19. Jahrhunderts vergleicht. Deutschland und Europa stecken eben nicht nur in einer EuroKrise, sondern – weniger sichtbar, aber wohl noch mächtiger – in einer Zeit der Emanzipationen.

Die Frauen können mit einigem Recht als Mütter der Entwicklung vor etwa hundert Jahren angesehen werden. Auf den Kampf um das Wahlrecht folgte die um ihre volle rechtliche Gleichstellung. Eine Riesenaufgabe, die bis in die letzten Jahre gedauert hat – die Väter und auch ein Teil der wenigen Mütter des Grundgesetzes hatten deswegen mit gutem Grund die Einführung des Gleichberechtigungsartikels 3 Absatz 2 gefürchtet. Nun schlagen die Frauen ihre vermutlich letzte große Schlacht, die um ihren Anteil an der Macht – was auch heißt: um eine neue Kultur des Arbeitens, um eine andere Balance zwischen Erwerbsarbeit und Familie. Nicht umsonst bekommt erst jetzt ein altes Problem wie das der sexuellen Belästigung so viel Aufmerksamkeit – es handelt schließlich von Machtverhältnissen. Migranten machen inzwischen ein Fünftel der deutschen Wohnbevölkerung aus, ihre Kinder und Enkel vielerorts die Hälfte in Kitas und Schulklassen. Auf diese Entwicklung politisch nicht zu reagieren, in der Schulentwicklung, im Staatsangehörigkeitsrecht, und, ja auch, im Religionsverfassungsrecht – Hamburg hat kürzlich den Anfang gemacht –, hieße Politik überhaupt aufgeben. Denn natürlich hat, wie jede vorher, auch diese Zeit der Emanzipationen wenig mit Gutherzigkeit und viel mit Notwendigkeit zu tun. Schon die Emanzipation der Juden und die Bauernbefreiung vor 200 Jahren waren von ihren Erfindern vor allem als Modernisierungsschub für jenes Preußen gedacht, das durch die Niederlage gegen Napoleon erkennen musste, dass es aus der Zeit gefallen war.

Was das alles mit Sinti und Roma zu tun hat? Auch sie stecken längst in diesem Prozess. Aber ihre Emanzipation stockt noch, und das ist nicht zufällig so. Und sie ist absehbar eine der härtesten Proben darauf, ob das ganze Projekt weiterkommt oder stecken bleibt. Das Vorurteil gegen „Zigeuner“ ist nämlich nicht nur jahrhundertealt und tief verwurzelt, es ist auch bis heute weithin gesellschaftsfähig. Das Jahr 1945 bedeutete in dieser Hinsicht keinen Bruch. Sie blieben sozial isoliert, die Polizei führte weiterhin Karteien (siehe Text rechts), und noch jetzt glaubt fast die Hälfte der Deutschen an eine „Neigung“ der Minderheit zur Kriminalität.

Dabei gilt wie für andere Randgruppen auch hier: Die Vorurteile, die sie am Rande festhalten sollen, malen kein wirklichkeitsgetreues Bild von ihnen. Sie geben wieder, wie die Mitte der Gesellschaft sie sehen will – und muss, um die schlechteren bis miserablen Lebensbedingungen derer am Rand zu rechtfertigen. Da sind die einen angeblich diebisch und schmutzig, die andern geistig minderbemittelt. Keine Zustandsbeschreibungen, sondern Zuschreibungen. Ein Buch „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ würde heute, anders als 1900, wohl nicht einmal mehr einen Verlag finden. Damals hielten das gar viele für plausibel. Es gibt insofern Hoffnung, dass auch die Tage des Antiziganismus gezählt sind. Vielleicht nicht in allen Köpfen – das lehrt das Beispiel des Antisemitismus – aber in Ämtern, Regierungen, Schulen, überall da, wo die Gesellschaft der Minderheit organisiert gegenübertritt.

Wieder einmal ist das ein Erfordernis der Zeit. Durch die Osterweiterung sind jene Länder Mittel- und Südosteuropas Teil der Europäischen Union geworden, in denen Roma einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung ausmachen. Eine Million Ungarn etwa gehören der Minderheit an, das sind 7,5 Prozent aller Bürger des Landes. Sie alle sind auch Bürgerinnen und Bürger Europas. Da wo ihnen die Bürgerrechte bestritten werden, haben sie nun größere Möglichkeiten, sich zu wehren. Oder es tun die, die sich qua Amt um diese Rechte zu kümmern haben. Als Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy 2010 Roma-Siedlungen in Frankreich räumen ließ und Roma nach Bulgarien und Rumänien abschob, konnte ihm die Brüsseler Justizkommissarin Viviane Reding mit einem Vertragsverletzungsverfahren drohen. Auf europäischer Ebene ist die Sache von Europas größter Minderheit – zehn bis zwölf Millionen Menschen zählen dazu – inzwischen angekommen. Vor sieben Jahren riefen zwölf Länder mit starken Roma-Minderheiten die „Roma-Dekade“ aus, seit 2011 müssen die Mitgliedsländer der EU der Brüsseler Kommission über Fortschritte der Integration berichten. Dass etwas geschieht, ist nicht nur auf dem Balkan dringend notwendig – auch wenn die Bundesregierung zunächst einmal nach Brüssel gefunkt hat, dass hierzulande alles in Ordnung sei. Einer Studie zufolge, die die Minderheit in Deutschland kürzlich selbst in Auftrag gab, haben zehn Prozent ihrer jungen Leute zwischen 14 und 25 Jahren nicht einmal eine Grundschule besucht, bei den über 51-Jährigen erreicht der Anteil fast die Hälfte, 40 Prozent.

Mit diesen Zahlen ließe sich naiv weiter das Vorurteil dekorieren: Also doch, nicht mal in die Schule schicken sie ihre Kinder! Über die Gründe, Diskriminierung, Mobbing, wüssten die Betroffenen zu berichten. Aber ein Schuh wird ohnehin umgekehrt daraus. In Deutschland besteht allgemeine Schulpflicht. Wenn's bei so vielen Kindern einer Minderheit keinen kümmert, wenn sie fehlen: Was sagt das über die Mehrheit?

Das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma wurde am 24. Oktober eröffnet, in den Festreden war auch von jenem Hass auf die Minderheit die Rede, die mit dem Holocaust nicht endete. An den Lebenden wird sich nun zeigen können, wie ernst der Mehrheit noch der Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist, der am Anfang jeder Demokratie steht: dass „alle Menschen gleich geschaffen“ sind.

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