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Unterstützer von Joe Biden versammelten sich am Wahltag vor dem Weißen Haus, um zu protestieren.

© Yegor Aleyev/imago

Sigmar Gabriel zur US-Wahl: „Es ist egal, ob Joe Biden oder Donald Trump Präsident wird“

Es gibt viele Menschen, die sich bei Trump gut aufgehoben fühlen, sagt der frühere SPD-Chef. Deren Gründe werden in Deutschland nicht genug wahrgenommen.

Sigmar Gabriel war SPD-Vorsitzender und ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Er ist Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört.

Herr Gabriel, wie haben Sie die Wahlnacht verbracht?
Im Bett. Ich verstehe nicht, warum die halbe Republik nächtliche Wahlsendungen macht, obwohl wir alle wussten, dass es nicht mal heute Morgen ein Ergebnis geben konnte. Ausgeschlafen kommentieren sich so schwierige Wahlergebnisse leichter.

Trotzdem ist ja heute Morgen schon was passiert. Trump spricht jetzt von Betrug, er hat sich im Prinzip schon zum Sieger ausgerufen.
Das war leider absehbar, da er seit Monaten die Strategie betreibt, die Briefwahl zu delegitimieren, das ist leider keine Überraschung. In Deutschland würde der Bundeswahlleiter entscheiden, wann ein Wahlergebnis feststeht – und nicht einer der Kandidaten.

Also glauben Sie, dass es jetzt zu einer Entscheidung vor Gericht kommt?
Ich glaube, dass es nicht nur ein Gerichtsverfahren geben, sondern schon auf der Staatenebene Streit über die Fragen geben wird: Zählen die Briefwahlen und wie lange werden die ausgezählt? Es hat ja auch schon erste Verfahren gegeben.

Es ist extrem spannend. Die Demokraten hatten auf einen Erdrutschsieg gehofft, aber Trump ist überraschend stark. Offensichtlich hat ihm seine kontroverse Art, sein Amt auszuüben, nicht geschadet. Hatten Sie das erwartet?
Ich habe mich gewundert über die Umfragen und die Kommentierung in Deutschland, die Trump schon seit Wochen als Verlierer sehen. Amerikanische Analysten haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es auf ganz wenige Staaten ankommen wird und dass in diesen Staaten der Vorsprung von Biden vor Trump nie so groß war wie in den nationalen Umfragen. Ich habe jedenfalls seit längerer Zeit damit gerechnet, dass es einen knappen Ausgang geben wird und dass dadurch eine echte Verfassungskrise in den USA entstehen kann.

Sigmar Gabriel ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke.
Sigmar Gabriel ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke.

© Britta Pedersen/dpa

Es könnte ja immerhin noch passieren, dass Trump doch irgendwann seine Niederlage eingesteht.
Danach sieht es gerade nicht aus und die amerikanische Verfassung ist nicht ganz klar, wie die nächsten Schritte sind, wenn er es nicht tut. Die Mütter und Väter der Verfassung konnten sich offensichtlich nicht vorstellen, dass ein Präsident der USA das Mehrheitsprinzip infrage stellt.

Die Wahlbeteiligung ist extrem hoch – und für Trump sieht es trotzdem gut aus, das war anders erwartet worden. Warum wird Donald Trump immer wieder unterschätzt, warum kann man sich bei uns so jemanden als Präsidenten nicht vorstellen?
Weil gerade wir Europäer und speziell wir Deutschen dazu neigen, immer nur auf Trump zu schauen und wir stellen uns nicht die Frage, von wem und aus welchen Gründen er eigentlich unterstützt wird. Wie Trump Politik macht, wissen wir inzwischen. Die entscheidende Frage ist doch, warum gibt es Menschen, die sich bei ihm gut aufgehoben fühlen? In Florida war es zum Beispiel der Fall, dass die Lateinamerikaner und darunter auch die Frauen, Trump gewählt haben – und zwar in relativ großer Zahl, sogar mehr als beim letzten Mal gegen Clinton.

Es gibt eben Teile der amerikanischen Gesellschaft, die ganz andere Wertvorstellungen haben, als die Mehrheit hier. Denen es zum Beispiel aus religiösen Gründen ungeheuer wichtig war, dass Trump eine erklärte Abtreibungsgegnerin ins höchste amerikanische Gericht entsandt hat.

Und es gibt auch einen Teil, der über Jahrzehnte von der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes vernachlässigt und auch abgehängt wurde. Trump hat auch dieses Mal zum Beispiel West Virginia gewonnen – das war 83 Jahre lang demokratisch regiert und ist ein traditioneller Gewerkschaftsstaat.

Die Gewerkschaften sind ja in den USA nicht besonders stark, aber in West Virginia waren sie immer stark. Daher kamen die frühen Erfolge der Demokraten dort. West Virginia ist stark industriell geprägt – und die Leute wählen Trump, weil sie den Eindruck haben, dass die liberalen Eliten, die Progressiven, die Linken, ihr Leben nicht verstehen noch sich dafür interessieren.

Und nicht zuletzt stehen für einen Teil der amerikanischen Mittelschicht die Demokraten - zu Recht oder Unrecht - für höhere Steuern und geringere Wirtschaftskompetenz. Die Trump-Anhänger sind nicht durchgehend ungebildete und am Gemeinwohl desinteressierte Leute, wie viele hier bei uns glauben. Sondern es gibt also durchaus Gründe, warum Trump so viele Anhänger hat. Die muss man nicht teilen, aber man muss sie kennen, wenn man die US-Wahlen verstehen will.

[Die Wahl bleibt spannend, wegen der vielen Briefwahlstimmen auch in den Tagen nach dem Wahltag. Bis zum 8.11. erscheint Twenty/Twenty, unser Newsletter zur US-Wahl, deshalb täglich. Sie können sich hier kostenlos anmelden.]

Das sieht man auch in den „rust belt“-Staaten, Pennsylvania, Wisconsin und Michigan – die ehemalige „blue Wall“, auf die es ja jetzt ganz stark ankommt.
Sie können nach Pennsylvania fahren, da finden Sie glitzernde Großstädte aber gleich daneben total ländliche, abgehängte Regionen. Es gibt in Amerika Regionen, in denen die Lebenserwartung junger Männer sinkt und zwar wegen der Drogenabhängigkeit – und diese entsteht nicht durch illegale Drogen, sondern dadurch, dass es in Amerika offensichtlich lange Zeit erlaubt war, bei den kleinsten Schmerzen opiathaltige Medikamente zu verschreiben. Das hat diese Leute in die Abhängigkeit getrieben.

Und wenn die Krankenversicherung diese teuren Medikamente irgendwann nicht mehr bezahlt hat, sind die Abhängigen auf illegale Drogen umgestiegen. Das sind Dinge, bei denen die Menschen Ihnen sagen: „Die Pharmalobby hat so viel Einfluss in Washington und deshalb so etwas in den USA möglich ist und bei Euch in Europa nicht.“ Ich kann nicht beurteilen, ob das stimmt oder nicht, aber es ist ein Beispiel für die gegen „die da oben in Washington“ gerichtete Anti-Establishment Haltung.

Gerade auch mit Blick darauf: Was macht die Faszination an Trump aus?
Es gibt nicht nur einen Grund. Wir dürfen nicht glauben, dass die Trump-Anhänger irgendwie ungebildet oder sonst was sind. Es gibt einen Teil von Amerikanern, die einfach merken, dass der Wohlstand dieses Landes groß ist, aber dieser Teil davon wenig hat. Und es gibt einen Teil, der sich gegen die Dogmatik mancher progressiver politischer Kräfte bei Identitätsthemen wehrt. Das geht an vielen Leuten absolut vorbei und erzeugt eher Gegenreaktionen.

Was würden Sie von einer zweiten Amtszeit von Donald Trump erwarten? Wird Trump so weitermachen wie bisher - oder glauben Sie, dass er in irgendeiner Weise seinen Stil ändert?
Warum sollte er das, wenn er gerade bewiesen hat, dass er mit diesem Stil an der Macht bleiben kann? Ich glaube, dass - sollte Trump die Wahl noch einmal gewinnen - die Welt weiter damit zu tun haben wird, dass in Amerika ein Präsident das Land führt, der von Allianzen und internationalen Institutionen nicht viel hält und dessen Politik darauf ausgerichtet ist, zwischen den starken Nationen in der Welt bilaterale Deals zu machen und die anderen zur jeweiligen Gefolgschaft aufzufordern. Das ist natürlich das Gegenteil dessen, was wir als Europäer uns von der Welt vorstellen.

Wie sollten Deutschland und die EU reagieren, falls Trump eine zweite Amtszeit bekommt?
Das ist schwer zu sagen, aber egal wer der nächste Präsident wird, es gibt eine klare Erkenntnis: Wenn Europa nicht an politischem, ökonomischem und technologischem Gewicht zulegt, dann sind wir einfach bedeutungslos. Dann ist egal, wer da Präsident wird. Auch Joe Biden wird fragen, was die Europäer eigentlich einbringen.

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Sie hatten das letztens in einem Interview schon einmal angerissen: Trump wird gerne zum  Sündenbock gemacht aber wir Europäer hätten auch einiges zu tun. Was meinen Sie konkret?
Wir zeigen immer mit einem Finger auf die USA und manchmal habe ich das Gefühl, das soll davon ablenken, dass wir selber unsere Hausaufgaben auch nicht gemacht haben. Vieles von der Schwäche Europas hat nichts mit Donald Trump oder den USA zu tun. Dass wir in Europa uneinig über die Wirtschafts- und Finanzpolitik sind, dass unser Wiederaufbauprogramm nach der Coronakrise viel zu lange braucht, dass wir in der Frage von Rechtsstaatlichkeit zwischen West- und Osteuropa total zerstritten sind, dass wir keine gemeinsame Migrationspolitik hinbekommen, dass wir keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik haben – das liegt doch nicht an den USA. Das liegt an uns. Und mein Gefühl war in den letzten Monaten und Jahren, dass wir gerne mit einem Finger auf die USA gezeigt und dabei vergessen haben, dass drei Finger auf uns zurückweisen.

Das sind die wichtigsten aktuellen Entwicklungen aus der US-Wahl-Nacht:

Sie sind Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Was würde sich am transatlantischen Verhältnis verändern, sollte Joe Biden es schaffen? Beobachter vermuten, dass sich die Amerikaner zwar im Umgang ändern würden jedoch in der Sache hart bleiben werden.
Es gibt einen zentralen Unterschied zwischen den beiden. Trump ignoriert Alliierte und Partnerschaften. Biden dagegen ist der Überzeugung, dass selbst Amerika in der Welt des 21. Jahrhunderts Partnerschaften braucht. Das heißt, dass es in Konfliktfällen mit Joe Biden viel einfacher wäre, Lösungen und Kompromisse zu finden, als es mit Donald Trump der Fall wäre – das ist der große Unterschied.

Können die Amerikaner eine zweite Amtszeit von Donald Trump verkraften - oder wird das Land irreparabel beschädigt werden?
Es ist egal, ob Donald  Trump oder Joe Biden Präsident wird, das Land wird leider auf lange Zeit tief gespalten bleiben. Das Problem ist, dass Donald Trump daran nichts ändern will – er wird die Spaltung eher manifestieren, wohingegen Joe Biden zumindest den Versuch unternehmen würde, das Land wieder zusammenzuführen.

Was wünschen Sie den Amerikanern?
Dass sie diese Spaltung überwinden.

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