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Die Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz wird in der Abenddämmerung angestrahlt.

© picture alliance/dpa

Sieben-Tage-Inzidenz als Maß der Dinge: Je mehr Geimpfte, desto irreführender wird die Mutter aller Zahlen

Ist die Sieben-Tage-Inzidenz noch geeignet, um die Entwicklung der Pandemie zu messen? Noch erscheint dieser Fokus richtig. Aber das dürfte sich bald ändern.

Greift die nächtliche Ausgangssperre? Wie viele Freunde dürfen sich treffen? Können Kinder zur Schule? Mit den Bundesregelungen zur aktuellen Corona-Notbremse hängen die Antworten auf viele Fragen des Pandemiealltags verbindlich von gewissen Werten ab: der Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt. Das sind die gemeldeten Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, nachgewiesen per Labortest.

Die Inzidenz gilt als ein Frühwarn-Indikator - wobei Experten stets appellierten, auch noch weitere Werte zu betrachten. Zuletzt sind allerdings vermehrt Forderungen laut geworden, einen anderen, angeblich geeigneteren Indikator heranzuziehen. Bei der derzeitigen Kritik geht es nicht nur um Faktoren wie den Einfluss von Test- und Meldeverzug auf die Werte - wie rund um Ostern. Das Argument ist auch: Zunehmend entkoppele sich die Sieben-Tage-Inzidenz von der eigentlichen gesundheitlichen Lage.

Dazu trügen an sich erwünschte Effekte bei, sagte der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig kürzlich: zunehmende (Schnell-)Tests, etwa an Schulen, und Impfungen der Risikogruppen, die hoffentlich die gesundheitliche Belastung sinken ließen. Krause sprach sich dafür aus, künftig besser auf die Entwicklung der Zahl der Covid-19-Neuaufnahmen auf den Intensivstationen zu blicken. Dies werde der Situation am ehesten gerecht, wenn man sich denn auf nur einen Messwert beschränken müsse.

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Gemeint ist nicht das bestehende Divi-Intensivregister, in dem unter anderem ein Bundeswert zu Neuaufnahmen auf Intensivstationen inklusive Verlegungen ausgewiesen wird. Es geht rein um Neuaufnahmen. Mangels regionaler Daten dazu habe man ein Schätzmodell mit Grenzwerten je nach Bundesland entwickelt, schilderte Helmut Küchenhoff, Leiter des Statistischen Beratungslabors der Helmut Küchenhoff, Leiter des Statistischen Beratungslabors der Ludwig-Maximilians-Universität München.

In einer Publikation zum Thema von Autoren um Küchenhoff und Krause heißt es, dass mit niedrigen Grenzwerten ein „etwaiger Zeitverzug“ kompensiert werden könnte. Aber sie nennen auch Einschränkungen.

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Für einen Fokus auf Schwerkranke sprachen sich auch zwei Professoren in einem Offenen Brief an die Bundestagsfraktionen aus: Der frühere Leiter der Charité-Virologie, Detlev Krüger, und der Ex-WHO-Virologe Klaus Stöhr warnten Mitte April, dass bei einer Kopplung von Maßnahmen an die Inzidenz „selbst dann massive Einschränkungen der Freiheitsrechte mit gravierenden Auswirkungen [...] erfolgen müssten, wenn längst weniger krankenhauspflichtige Erkrankungen als während einer durchschnittlichen Grippewelle resultierten“.

Krause betonte, ihm gehe es um eine sachgerechte Darstellung der Lage. Es sei ein Irrglaube zu denken, dass die Inzidenz „die Sache überschätzt“. Risiken könnten durchaus auch unterschätzt werden und gebotene Maßnahmen unterbleiben. Als Beispiel nannte er „ganz besondere Dramen“ in kleinen, aber sehr anfälligen Gruppen, wie in schlecht versorgten Heimen oder unter beengten Wohnverhältnissen. In der pauschalierten Inzidenz träten diese nicht deutlich in Erscheinung.

[Lesen Sie mehr zum Thema: Streit über Pandemie-Messgrößen – Das spricht gegen die Inzidenz als Mutter aller Zahlen (T+)]

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigte in der Vorwoche den Blick auf die Sieben-Tage-Inzidenz: „Noch jedenfalls, in dieser Phase der Pandemie, ist es so, dass Inzidenz und Intensiv miteinander zusammenhängen.“ Das sei die Erfahrung der vergangenen Monate, auch international. Eine steigende Inzidenz lasse in der Folge auch in Kliniken die Belastung steigen. Das gelte so lange, bis ein deutlich größerer Teil der Bevölkerung geimpft sei.

Der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk bestätigt, dass die Aussagekraft der Sieben-Tage-Inzidenz für die zu erwartende Belastung des Gesundheitssystems mit zunehmender Durchimpfung der Bevölkerung nachlasse. Auch durch vermehrtes Testen in Altersgruppen, die in der Regel nicht schwer erkranken, ändere sich das Verhältnis zwischen Infektionszahlen und den zu erwartenden schweren Verläufen.

„Die Entkopplung ist momentan noch nicht so stark, wird aber zunehmen“, erklärt der Professor aus Halle. Auch Drosten sagte im Podcast: „Erst in der Zukunft wird sich das ein bisschen voneinander ablösen.“ Noch sei der Blick auf die Inzidenz richtig.

Laut Mikolajczyk ist der Vorteil der Sieben-Tage-Inzidenz, dass sie auch kleinräumig eingesetzt werden könne, während die Aufnahmezahlen klein sein könnten und zu stark schwankten, etwa in Landkreisen mit wenig Intensivbetten. Befürworten würde er aber, im weiteren Verlauf der Epidemie die Inzidenzschwelle anzupassen. Auch die Dynamik der Ansteckungen, also R-Wert oder Verdopplungszeit, müsse im Auge behalten werden, da ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen das Gesundheitssystem schnell an die Belastbarkeitsgrenze bringen könne.

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Zum Einschätzen der noch verkraftbaren Belastung zunehmend auch die regionalen Covid-19-Neuaufnahmen heranzuziehen, hält er in Phasen stabiler oder langsam wachsender Infektionszahlen aber für durchaus sinnvoll. Und auch dann, wenn sich Testzahlen stark ändern, wie etwa über Feiertage.

Verbreite sich das Virus allerdings gerade stark, sei eine möglichst frühe Erfassung von Vorteil, betont Mikolajczyk: Also am besten schon beim anhaltenden Anstieg von positiven Tests. „Die Schulkinder sind im Moment die am besten getestete Altersgruppe - man kann sie als Frühwarnsystem deuten“, betonte Mikolajczyk. Zeige sich in einer Altersgruppe ein Anstieg der Inzidenz, dann sei das ein Hinweis auf eine Zunahme des Infektionsgeschehens insgesamt. Altersgruppen hätten ja Kontakte untereinander.

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Nun greift also ab einem Inzidenzwert von 100 regional die Notbremse. Hat es für die Kommunikation mit Bürgern Vorteile, auf bestimmte Zahlen zu setzen? Markus Schäfer, Sprecher der Fachgruppe Gesundheitskommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft, verneint: „Ich würde auch davor warnen, einen Wert in ein Gesetz zu schreiben, in der Annahme, es sei leichter zu kommunizieren“, sagte der Wissenschaftler der Uni Mainz.

Wichtig sei vielmehr, dass politische Entscheidungen nachvollziehbar seien. Sie hätten sich in Deutschland jedoch losgelöst vom Sachstand, kritisierte Schäfer. Die für die Schulen festgelegte Inzidenzschwelle von 165 zum Beispiel sei nicht wissenschaftlich begründet. Für Schäfer zeigt das, dass klassische politische Mechanismen wie Kompromissfindung in der Pandemie an Grenzen stoßen.

Auch das Ringen um noch verträgliche Werte - vor nicht allzu langer Zeit war noch von den Sieben-Tage-Inzidenzen 35 und 50 die Rede - hat aus Sicht Schäfers zum Vertrauensverlust in die Politik beigetragen. Laut der sogenannten Cosmo-Erhebung ist es vor allem seit Mitte Februar rapide gesunken. Schäfer verweist auch auf das in der Umfrage ermittelte nachlassende Wissen über die Corona-Regeln insgesamt: „Die Leute verstehen es nicht mehr.“ (dpa)

Gisela Gross

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