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Eine Wildtierkamera blitzte den Einwanderer in einem Alpental bei Schloss Linderhof.

© dpa

Sichtung in Deutschland: Warum der Bär den Bayern Angst macht

Er kam wie der „Problembär Bruno“ aus Italien nach Bayern. Der Bär meidet Menschen. Doch mit dem Urtier kehren Urängste zurück.

Eigentlich wollte Ludwig genau hier sein Versailles errichten. Ein Versailles in einem allereinsamsten Alpental, wo sonst? Und bloß keine Nachbarn! Wie einst der König von Bayern ist auch der europäische Braunbär ein großer Einzelgänger. In diesem Herbst umwanderte er Ludwigs Schloss, das am Ende doch kein Versailles, sondern mehr eine Riesen-Villa wurde, Schloss Linderhof.

Der bärenstarke Immigrant wurde auf seiner Sightseeingtour geblitzt, von einer Wildtierkamera. Eine Hauptregel bei der Begegnung mit Bären lautet: Bloß kein Blitzlicht! Das macht sie aggressiv. Aber außer der Kamera hat bisher noch niemand den Einwanderer getroffen. Wahrscheinlich kommt er aus Italien, aus dem Trentino, wie einst „Problembär“ Bruno.

„Das ist ein vorbildlicher Bär!“, lobt Thomas Bär, Orthopäde und Chirurg in der Bären-Gemeinschaftspraxis am Staffelsee, die Alpen in Sichtweite. In der Mitte des Praxislogos prangt das höchst selbstbewusste Raubtier, gar kein Teddy, gar kein Maskottchen. Das ist ein Schwarzbär, erläutert Bär, ich heiße Bär, meine beiden Kollegen heißen Schwarz. Im Wartezimmer der Praxis liegt das Buch von Eddi Bär, der morgens vor seiner Höhle sitzt, gerade seinen Bärenkakao getrunken hat und jetzt allen zeigen will, wie bärenstark er ist.

„Engmaschige Beobachtung“

Thomas Bär ist der Vorsitzende der Garmisch-Partenkirchener Jäger. In seinem Jagdrevier war der Neue also unterwegs. „Der will nicht entdeckt werden“, ergänzt Bär mit Respekt. Wie zuvor Ludwig meidet der Neubayer also sorgfältig die Menschen. Dem König brachte diese Verhaltensweise den Ruf des Problem-Königs ein, doch der Zuwanderer bekommt Anerkennung von allen Seiten. Was für intakte Instinkte! Obwohl das Lob manchmal von einem latenten Misstrauensantrag nicht zu unterscheiden ist.

Die Vorsitzende des Vereins Wildes Bayern formulierte das so: „Wir freuen uns, dass er da ist, aber wir brauchen eine klare Strategie.“ Vor allem müsse er „engmaschig beobachtet“ werden. Bär muss lachen. Soweit die Strategie.

Viele gehen davon aus, dass nicht nur Europa eins wird, sondern dass auch die Braunbären Europas sich wiedervereinigen wollen, früher oder später. Das EU-Projekt „Bearconnect“ will sie dabei beobachten. Der potenzielle Hauptbegegnungsraum, das Bärendrehkreuz gewissermaßen, wären die Alpen. Freunde der Biodiversität sagen Ja! zum Braunbären. Und die anderen?

Freut sich Bär auch über den Bär? Der jagende Orthopäde blickt nachdenklich auf eine Röntgenaufnahme mit nicht optimalem Arm-Befund auf seinem Bildschirm. Ich sage nicht, ich lehne ihn ab, formuliert er schließlich, ich habe nur meine Zweifel, ob er auch künftig gut, also in größtmöglicher Gemütsruhe an jeder Schafherde vorbeikommt.

Jay-Jay-One kam im Mai

Auch Bär muss wie fast alle hier nun wieder öfter an JJ1 denken, 2006 berühmt geworden als „Problembär Bruno“. Aber sein richtiger Name war JJ1. Seine Mutter hieß Jurka, sein Vater Joze, zwei Osteuropäer aus Slowenien, wohnhaft im Trentino, Italien, und er war ihr ältester Sohn, also JJ1, vorzugsweise Jay-Jay-One genannt.

JJ1 war der erste Braunbär, der nach 170 bärenlosen Jahren wieder die Grenzen Bayerns passierte. Als Ludwig II. den Thron bestieg, war der letzte bayerische Bär längst erlegt, 1835 bei Ruhpolding von Forstamtsaktuar Ferdl Klein. Jay-Jay-One kam im Mai, Ende Juni war er tot, erschossen am 26. Juni 2006 morgens um 4.50 Uhr auf der Kümpflalm, Spitzingsee. Vier Wochen lang hatte man versucht, ihn zu fangen. Zuletzt gaben vier finnische Bärenjäger mitsamt Bärenhundestaffel auf.

Märtyrer Bruno. Italien hatte am 28. Juni 2006 offiziell Protest bei der EU gegen die Tötung des Italieners mit osteuropäischem Migrationshintergrund eingelegt. Der italienische Umweltminister Alfonso Pecoraro Scanio forderte das bayerische Umweltministerium außerdem auf, die Leiche des Italieners an Italien zurückzugeben. Der bayerische Umweltminister antwortete sinngemäß, ein Wildtier gehöre niemandem, also behalte er es.

Die Italiener beschlossen, einen Hubschrauber der Bergwacht zur ewigen Mahnung „Bruno“ zu nennen. In Deutschland wurde der 26. Juni zum (inoffiziellen) Bärengedenktag ausgerufen. Bei der Staatsanwaltschaft München II ging eine Flut von Anzeigen gegen jene ein, die Jay-Jay-One nach dem Leben getrachtet hatten, schließlich sei der Bär ein geschütztes Tier.

„Normalbär“, „Schadbär“, „Problembär“, „Stoibär“

Wahrscheinlich waren Jay-Jay-Ones Mutter schwere Fehler bei der frühkindlichen Erziehung ihres Sohnes unterlaufen. Sie hatte ihm wohl erklärt, dass die Menschen die größten Sympathisanten der Bären seien, weshalb sie überall Bienenstöcke für ihn aufgestellt hätten. Der Honigbär braucht sie nur noch umzustoßen und kann sie dann entweder im Stück mitnehmen oder sie an Ort und Stelle zu Kleinholz machen. Die Menschen wissen auch, dass der Bär kein wirklich guter Jäger ist. Immer sind die Rehe schneller als er, meist sogar Schafe oder Ziegen. Das ist sehr frustrierend.

Darum hält der größte Freund des Bären die Schafe auf Koppeln oder in Ställen. Immerhin muss ein Bär wegen seines Bärenhungers täglich bis zu zwölf Kilo fressen.

Zwischen dem 20. Mai und dem 26. Juni 2006 soll Jay-Jay-One 31 Schafe und mehrere Ziegen getötet haben. Er wurde des Weiteren des Einbruchs in drei Bienenstöcke, zwei Hühnerställe und einen Kaninchenstall beschuldigt.

Der Zoologe und vormalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber unterschied auf einer Pressekonferenz drei Arten, den „Normalbären“ mit „erwartungsgemäßem Verhalten“, den „Schadbären“ mit nicht ganz so erwartungsgemäßem Verhalten und den Problembären mit erwartungsgemäß nicht erwartungsgemäßem Verhalten, was Stoibär den Beinamen „Schlaubär“ einbrachte.

Nur Beute flieht

Der Wald ist zu voll, sagt der Vorsitzende der Garmisch-Partenkirchener Jäger: „Wenn der Neue durch den Wald läuft, hat er bestimmt nach zehn Minuten fünf Pilzesucher, zwei Mountainbiker und eine Gruppe Geocacher getroffen.“ Geocacher sind Leute, die mit ihren Mobiltelefonen durch den Wald irren, um einen Schatz zu orten, den andere vergraben haben.

Wer also auf Schatzsuche oder beim Wandern plötzlich dem Immigranten gegenübersteht, sollte ein paar Dinge über die korrekte Begrüßung eines Bären wissen. Nicht füttern! Ihm nicht in die Augen blicken, denn das deutet er als Kampfansage. Nicht zufällig nennt Thomas Bär den Bären immer wieder „den großen Beutegreifer“. Nur Beute flieht. Es wird auch davon abgeraten, Bären mit Mountainbikes zu verfolgen. Das ist bei Jay-Jay-One passiert, worauf Jay-Jay-One schließlich die Radfahrer verfolgte.

Falsch ist es aber auch, wie einst der schwedische Arzt Axel Munthe, den Bären anzuschreien, ihn bös zu beschimpfen und ihm am Ende noch eins hinter seine unmöglichen braunen Ohren zu geben, damit er sich trollt. Munthe konnte sein Verhalten begründen: Es war schließlich sein Bär, ausgerissen von zu Hause. In etwas exzentrischen schwedischen Haushalten wachten damals Bären statt Hunde vor den Türen. Doch wie erstaunt war der Arzt, als er aus dem Wald kam und seinen Bären an der Kette liegen sah.

Bären mögen keine Zufallsbegegnungen. Am besten ist, man geht vorerst mit einer Bärenglocke wandern, damit er immer hören kann, wenn jemand kommt.

Die Ebene ist endgültig verloren

Thomas Bär mag sich gar nicht vorstellen, was der Neue erlebte, sollte er von Schloss Linderhof vielleicht über, nein wohl eher um Oberammergau gelaufen sein und zum ersten Mal in seinem Hochgebirgs-Leben in die Welt geschaut haben, wie sie plötzlich so ganz offen und platt und geheimnislos daliegt: Was für eine Flachland-Apokalypse! Überall Menschen, Straßen, Häuser.

Da dreht er um, weiß der Vorsitzende der Garmischer Jäger. Die Ebene ist für die Bären endgültig verloren. Besitzt seine Art so nicht umso mehr ein gleichsam natürliches Anrecht aufs Gebirge? Thomas Bärs Blick wird an dieser Stelle leicht unscharf.

Er als Jäger, und da spreche er durchaus im Namen seines Jagdverbandes, sei gern bereit, alles Wild mit den Bären zu teilen, immerhin hätten die Alpen höhere Wildtierbestände pro Quadratkilometer als Alaska. Das reicht für viele Bären. Aber die Almbauern! Die Art, wie Bär das Wort Alm-bau-er betont, auf jeder Silbe einzeln, verrät, dass er diese soziologische Gruppe für fast so respekteinflößend hält wie die Bären.

Was ihn aber wirklich verstimmt, sind Leute, die sagen: „Wir brauchen hier keine Bären!“ Das sei ja nun das dümmste Argument überhaupt.

Wir brauchen auch keinen Enzian

Ja, was brauchen wir denn schon?, fragt Bär und zitiert seinen Freund, den großen Fürsprecher der Wölfe, den Oberammergauer Ulrich Wotschikowsky: Wir brauchen auch keinen Enzian und kein Edelweiß und keine Beethoven-Symphonien, aber die Welt wäre ärmer ohne sie. Wotschikowsky hätte den Gast von Schloss Linderhof sicherlich begrüßt wie die Wölfe auch: Einfach stehen bleiben und den Augenblick genießen!, empfahl er. Doch Wotschikowsky ist schon im September gestorben.

Einfach stehen bleiben und den Moment genießen? Vor zwei Jahren erblickten die Mitarbeiter einer Möbelfabrik in Hermannstadt, Rumänien, einen Bären mit akuten Gleichgewichtsproblemen auf dem Dach gegenüber. Er war mit seinen 160 Kilogramm bereits über mehrere nicht bärengerechte Vordächer balanciert, doch nun fiel er runter in den Hof der Möbelfabrik. Stark irritierter Bär. Fünfzig stark irritierte Angestellte. Und kein Wotschikowsky weit und breit. Das Tier hat seinen Ausflug nicht überlebt.

Eine Internetseite fasst die Bären-Lage in Osteuropa so zusammen: „Die sonst sehr scheuen Tiere haben in einigen Gegenden gelernt, mit den Menschen zusammen zu leben. In Rumänien gibt es Gegenden, in denen Bären jeden Abend in die Städte kommen und die Mülltonnen nach Futter durchwühlen. Wenn die Mülltonnen umfallen, ist das zwar ziemlich laut, aber die Menschen haben sich daran gewöhnt.“

Hau ihm aufs Auge!

In diesem Sommer war ein britisches Paar aus Berlin in den Karpaten wandern, als eine Bärenmutter mit zwei Jungen an ihrer Seite auf den Mann zusprang und ihn am Bein umherschleuderte. Die Freundin des Malträtierten erstarrte, als sich aus den Tiefen ihres Gedächtnisses eine längst vergessene Empfehlung zum Umgang mit bösen Bären löste: Hau ihm aufs Auge! Genau das rief sie dem Mann zu. Er zielte, es war ohnehin seine letzte Chance. Und die Bärin ließ los.

Allein in den rumänischen Karpaten leben bis zu 6.500 Tiere, die Umweltbehörde registrierte 2017 73 Bärenangriffe, im selben Jahr soll der Abschuss von 140 „Problembären“ und 80 „Problemwölfen“ genehmigt worden seien.

Immer wenn der Mensch ein Problem hat, bekommt der Bär diesen Titel. Die Bauern fordern dann die „Entnahme des Bären aus der Natur.“ Was für ein Wort! Der große Unterschied zu 2006 ist, sagen sie in Bayern, dass sie diesmal einen Plan haben, und zwar den „Managementplan Braunbären in Bayern“. Er kennt mehrere Eskalationsstufen. E wie Entnehmen ist die letzte.

Der Managementplan besagt, dass ein Bär, der sich menschlichen Siedlungen nähert, „vergrämt“ werden muss. Man spielt ihm dazu etwa Musik vor, die sein ästhetisches Empfinden beleidigt, und beschießt ihn mit Gummigeschossen. Das haben sie auch bei Jay-Jay-Ones Mutter im Trentino gemacht. Das moderne Leben ist voller Unannehmlichkeiten, sagte sich Jurka und kam trotzdem immer wieder.

Nur Menschen, keine Bärin

Am 26. August 2010 wurde sie wegen fortgesetzter Renitenz in den Alternativen Wolf- und Bärenpark Schwarzwald verbracht. Ihr zweiter Sohn JJ2, Wahl-Schweizer und Wahl-Tiroler, gilt seit 2005 als vermisst. Ihr dritter Sohn, „Risikobär“ JJ3, wurde im April 2008 von der Schweizer Bergwacht erschossen. Seine Auffassung, alle Hochgebirgsmülleimer gehören mir, erwies sich als nicht mehrheitsfähig.

Was dem Wandererpaar aus Berlin in den Karpaten geschehen ist, steht in Bayern kaum zu befürchten. Bärinnen mit Nachwuchs sind aggressiv, und ihr Lebensraum wird selbst in den Karpaten immer kleiner. Der Einwanderer aber ist mit großer Sicherheit ein Männchen. Nur die laufen so weite Strecken: auf der Suche nach einer Frau.

Vielleicht hat der Bär bei Oberammergau tief in die Ebene hineingerochen, er riecht 100.000 Mal besser als wir: Und seine Nase verriet ihm nur Menschen, keine Bärin weit und breit. Entweder, er ist vor Schreck und Enttäuschung sofort wieder umgekehrt, bis nach Österreich oder gleich bis ins Trentino. Oder er hat sich hier eine Höhle gesucht für die nächsten Monate. Im Dezember gehen die letzten europäischen Braunbären schlafen.

Auf Schloss Nymphenburg in München wurde 1845 der Problemkönig Ludwig II. geboren. Dort steht heute ausgestopft Jay-Jay-One, einen Bienenstock plündernd.

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