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Polizisten sichern im Oktober 2019 den Bereich vor der Synagoge in Halle.

© dpa

Sicherheitsrisiko Coronakrise: „Gefahr rechtsterroristischer Anschläge ist erhöht“

Der Extremismusexperte Stefan Goertz warnt vor rechtsextremen Tätern und Krankenhäusern als Angriffszielen. Auch der IS erstarkt. Ein Interview.

Dr. Stefan Goertz ist Professor für Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes im Fachbereich Bundespolizei. Sein Schwerpunkt ist die Extremismus- und Terrorismusforschung. Er berät zudem deutsche Sicherheitsbehörden.

Herr Goertz, auch wenn in der Pandemie derzeit die Sorgen um Gesundheit und Wirtschaft überwiegen, warnen Experten davor, dass die Coronakrise auch eine Sicherheitskrise werden könnte. Wie realistisch ist das?
Starke Sicherheitsprobleme verursacht Corona vor allem für die arabische und nordafrikanische Welt, also beispielsweise für Staaten wie Mali, Libyen, Syrien, Irak und Afghanistan. In Mali patrouillieren die internationalen Truppen aufgrund der Pandemie kaum noch in der Öffentlichkeit. 

Einige Länder haben ihre Soldaten von dort abgezogen beziehungsweise sie sind in Corona-Quarantäne. Da ist ein Sicherheitsvakuum entstanden. Im Irak wird ein Wiedererstarken des eigentlich totgeglaubten Islamischen Staates beobachtet.

Woran ist das zu erkennen?
Seit Beginn der Coronakrise hat der IS im Irak rund 430 Anschläge verübt. Es gibt einen deutlichen Anstieg: Die Zahl der Anschläge war im April doppelt so hoch wie im Januar. Und im Mai wurden etwa 3000 IS-Kämpfer im Irak gezählt. Die haben ihre Taktik im Vergleich zu früher geändert und setzen jetzt verstärkt auf Erpressung von Mautgebühren an Fernstraßen, auf Schmuggel und auf sehr gut koordinierte Guerillaangriffe. 

Dass der IS damit Erfolg hat, liegt auch daran, dass ein Großteil der irakischen Streitkräfte abgelenkt ist. Sie sind eingesetzt bei der Überwachung der Corona-Ausgangssperren. Viele irakische Polizisten und Streitkräfte erschienen aus Angst vor Corona gar nicht mehr zum Dienst. Internationale Soldaten wurden abgezogen. Das alles führt dazu, dass der IS wieder aufblüht. Auch in Syrien soll der IS jetzt wieder 2000 Kämpfer haben.

Welche Auswirkungen hat das auf die Sicherheitslage in Europa und Deutschland? Man könnte ja davon ausgehen, dass ein stärkerer Islamischer Staat auch wieder vermehrt Anschläge plant.
Mittelfristig kann das durchaus Konsequenzen haben: Zwischen 2014 bis 2016 war es auch so, dass der IS zuerst in der arabischen Welt im Kernland Irak und Syrien erstarkt ist und dann die Anschläge in Europa deutlich hochgegangen sind. Dieses Muster könnte sich jetzt wiederholen.

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Hat die Pandemie Schwachstellen unserer modernen Gesellschaft offenbart, die sich Terroristen zunutze machen könnten – etwa bei der Wahl ihrer Anschlagsziele?
Auf jeden Fall. Ich warne bereits seit einigen Jahren davor, dass Krankenhäuser in den USA und Europa Ziele für Terroristen werden könnten, weil sie keine Sicherheitsschleusen haben. Wenn die Attentäter erst mal im Krankenhaus sind und anfangen haben mit einem Massaker, dann sind ihnen viele Kranke und Schwerkranke schutzlos ausgeliefert, bis die Polizei eintrifft. 

Im März hat das FBI im US-Bundesstaat Missouri etwa einen Sprengstoffanschlag auf ein Krankenhaus vereitelt, den ein Rechtsterrorist verüben wollte. In dem Krankenhaus wurden Covid-19-Patienten behandelt.

Die Coronakrise hat auch gezeigt, wie schnell ein Virus das öffentliche Leben lahmlegen kann. Der Europarat warnt jetzt vor Terroranschlägen mit Biowaffen. Ist das ein realistisches Szenario?
Da bin ich zurückhaltend. In der Vergangenheit gab es beispielsweise den Fall des Tunesiers Sief Allah H., der in einer Wohnung im Kölner Stadtteil Chorweiler das hochtoxische Gift Rizin hergestellt hat. Da hat der Präsident des Bundeskriminalamts davon gesprochen, dass ein Anschlag mit einer „Biobombe“ ganz knapp verhindert wurde. Sief Allah H. hatte sich im Internet die Anleitung angeschaut, wie man aus Samen des Rizinusbaums dieses Gift gewinnt. 

Die Idee, so etwas zu machen, ist also da. Bei Extremisten gab es auch bereits die Überlegung, mit einer Drohne über einem Marktplatz oder über einer Fußgängerzone Mehl abzuwerfen – das weiße Pulver könnte dann eine Massenpanik verursachen, weil die Menschen nicht wissen, was es ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Anschlag mit Biowaffen begeht, ist aber viel geringer als der nächste Anschlag mit einem Messer, Fahrzeug oder einer Schusswaffe.

Der Sicherheitsexperte Stefan Goertz.
Der Sicherheitsexperte Stefan Goertz.

© privat

Auch Rechtsextremisten nutzen die Coronakrise, um ihre Anhänger zu radikalisieren und aufzustacheln. Erhöht das die Gefahr, dass es zu rechtsterroristischen Anschlägen kommt?
Leider ja. Das hat auch mit den Verschwörungstheorien zu tun, die in rechtsextremen Internetforen verbreitet werden. Da wird ein dualistisches Bild vermittelt, ein Freund-Feind-Schema: wir gegen die anderen, die Juden, die Finanzelite oder die Politiker. Es wird Hass geschürt und zum Widerstand gegen den angeblich übermächtigen Feind aufgerufen. 

Wir haben bereits in der Vergangenheit gesehen, dass rechtsterroristische Attentäter Verschwörungsglauben anhingen – etwa die Attentäter von Halle, Hanau oder Christchurch. Durch Corona ist die Wahrscheinlichkeit rechtsterroristischer Anschläge noch einmal gestiegen.

Warum sehen Sicherheitsbehörden dabei vor allem die Gefahr eines „Lone Wolf“ – eines rechtsterroristischen Einzeltäters?
Wenn es ein Einzeltäter ist, der vor dem Anschlag nicht kommuniziert – entweder virtuell oder realweltlich –, dann ist es quasi unmöglich, den Anschlag zu verhindern. Dahinter steht das Prinzip „Leaderless Resistance“ oder „Führerloser Widerstand“, das in den 90er Jahren durch den Ku-Klux-Klan in den USA in rechtsextremen Kreisen verbreitet wurde. 

Da haben die US-Sicherheitsbehörden festgestellt: Je größer die Zelle oder je größer die Organisation, desto leichter können die Sicherheitsbehörden darauf zugreifen. Je kleiner, je weniger Kommunikation, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Sicherheitsbehörden vor dem Anschlag nichts mitkriegen. So war es ja auch bei den Anschlägen in Halle oder Hanau. Ein radikalisierter Einzeltäter wurde ohne Anleitung durch eine Gruppe oder Organisation tätig.

Bei dem rechtsextremen Anschlag auf zwei Shishabars in Hanau hat der Täter im Februar zehn Menschen erschossen.
Bei dem rechtsextremen Anschlag auf zwei Shishabars in Hanau hat der Täter im Februar zehn Menschen erschossen.

© Andreas Arnold/dpa

Es ist ja auch oft die Rede vom „stochastischen Terrorismus“, dass also durch Herabwürdigung von bestimmten Gruppen zu Gewalt gegen sie aufgestachelt wird.
Ja, darum geht es. Über das Internet werden Menschen radikalisiert und beispielsweise gegen Juden oder Muslime aufgehetzt, sodass sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass jemand von sich aus einen Anschlag begeht. Ein solcher Attentäter ist dann eben nicht organisatorisch angebunden im Sinne einer Zelle oder Gruppe, sondern nur ideologisch.

Sicherheitsbehörden beobachten auch, dass derzeit in rechtsextremen Chatgruppen dazu aufgerufen wird, Muslime oder Juden anzuhusten und mit Corona anzustecken. Befürchten Sie, dass so etwas jetzt flächendeckend passieren könnte?

Bislang ist es bei Aufrufen geblieben. Aber das kann sich ändern. Der IS hat auch seit 2012 dafür geworben, mit einem Fahrzeug einen Anschlag zu begehen. 2016 in Nizza ist es dann das erste Mal passiert. Es dauert, bis so eine Idee aufgegriffen wird.

Derzeit sind die deutschen Sicherheitsbehörden dabei, ihre Kapazitäten im Bereich Rechtsextremismus auszubauen. Sehen Sie die Gefahr, dass dabei der islamistische Terror wieder aus dem Blick gerät?
Nein. Die Analysefähigkeit der Sicherheitsbehörden beim islamistischen Terrorismus ist sehr gut. Beim Rechtsextremismus gibt es dagegen großen Aufholbedarf. Und für die Coronakrise muss man sagen, dass tatsächlich in Deutschland die Gefahr durch den Rechtsextremismus im Augenblick größer ist als im Bereich islamistischer Terrorismus.

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