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Eine Schaukel auf einem Spielplatz in Hamburg-Harburg

© dpa/Malte Christians

Sexueller Missbrauch von Kindern: Wie gut schützt der Staat die Jüngsten?

Das Justiz- und Behördenversagen bei zwei Fällen von sexueller Gewalt gegen Kinder empört viele in Deutschland. Das Problem ist dramatisch groß. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Der Fall des neunjährigen Jungen aus Freiburg, der von seiner Mutter und seinem pädophilen Stiefvater zum Missbrauch angeboten wurde, erschüttert unzählige Menschen in Deutschland. Obwohl der wegen Missbrauchs vorbestrafte Stiefvater laut Gerichtsbeschluss keinen Kontakt zu einem Kind haben durfte, lebte er mit der Mutter des Jungen zusammen. Das zuständige Jugendamt nahm ihn deshalb in Obhut, Familienrichter entschieden aber, dass er zurück in die Familie dürfe. Sie haben fatalerweise der Mutter vertraut. Jetzt streiten Gericht und Jugendamt über die Frage, wer Schuld an dem Desaster hat.

In Berlin konnte ein Erzieher an einer Grundschule arbeiten, obwohl er zugleich wegen Kindesmissbrauchs angeklagt war. Der Fall wirft aber auch wieder ein Schlaglicht auf das Problem des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Gewalt in Deutschland.

Wie groß ist das Problem bundesweit?

Es ist dramatisch groß. Mehr als eine Million Kinder und Jugendliche sind nach Schätzungen von Experten Opfer von sexualisierter Gewalt. Jährlich gibt es rund 12.000 Ermittlungs- und Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen. Experten schätzen, dass es bundesweit rund 250.000 Menschen mit pädophilen Neigungen gibt. Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, sagt: „Wir wissen, dass das Dunkelfeld um ein Vielfaches größer ist. Neueste Studien sprechen davon, dass rund jeder Siebte in Deutschland von sexueller Gewalt in der Kindheit betroffen ist.“ Experten gehen davon aus, dass in jeder Schulklasse mindestens ein bis zwei Kinder sind, die Missbrauch erleiden oder erlitten haben. Der Ulmer Jugendpsychiater Jörg Fegert, ein führender Forscher auf diesem Gebiet, sagt: „Der Kindesmissbrauch hat die Ausmaße einer Volkskrankheit erreicht.“

Missbrauch findet in allen sozialen Schichten und in allen Bereichen statt: Schulen, Kirchen, Sportvereinen, Chören, am stärksten allerdings in den Familien. Zu den bekanntesten Einrichtungen, in denen vielfach Missbrauch passiert ist, gehören die Odenwaldschule in der Nähe von Heppenheim, das Canisius-Kolleg in Berlin und das Kloster Ettal.

Experten schätzen, dass es bundesweit rund 250.000 Menschen mit pädophilen Neigungen gibt. Allerdings, auch darauf verweisen Experten: Nicht jeder dieser Menschen ist ein potenzieller Täter. Klaus Beier, Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité, sagt: „Ich würde jeden in Schutz nehmen, der eine pädophile Neigung hat, aber neigungsabstinent lebt.“

Wie leiden die Opfer?

Das Beispiel Pia, als Kind von einem Priester jahrelang sexuell missbraucht. Dieser war als Theologiestudent in den 50er Jahren zu ihrer Familie gezogen, Pia musste im gleichen Bett wie er schlafen, für die Mutter war der Priester die „Liebe ihres Lebens“. Pia erzählte: „Ich musste bei ihm beichten. Das war ja Sünde, was nachts passierte. Was hatte ich für eine Angst, dass ich verunglücke, ohne gebeichtet zu haben. Man kommt in die Hölle, wenn man eine Todsünde begangen hat.“ Als der Priester bei ihrer Mutter einzog, war Pia sechs. Nachdem Pia sich ihrer Mutter anvertraut hatte, bestritt der Priester den Missbrauch. „Dann haben beide mich überredet, dass ich das geträumt habe.“ Der Missbrauch endete, als Pia 13 Jahre alt war. In der Pubertät bekam sie psychische Probleme, Ess- und Schlafstörungen. Nachdem die Mutter schwer krank geworden war, zog der Priester aus. 2010 wandte sich Pia an einen Verantwortlichen des Ordens, zu dem der Täter inzwischen gehörte. Sie erhielt 10 000 Euro Entschädigung.

Eine von unzähligen Leidensgeschichten. „Der Eingriff in die psychische und physische Integrität durch Missbrauch ist oft so stark, dass es das weitere Leben prägt und begleitet“, sagt Rörig. „Viele Betroffene können keine Beziehung eingehen, sie haben keine Familie, sie kommen oft auch in ihrem Beruf nicht klar.“ Viele benötigen eine Therapie. Und viele Opfer schweigen oft jahrzehntelang, aus Scham oder weil sie das Gefühl haben, niemand würde ihnen glauben. Ein Opfer erzählte: „Man fühlt sich ein Leben lang beschmutzt und bedreckt. Das fühlt man als Kind auch schon, und diesen Dreck kann man keinem anvertrauen.“

Beim Missbrauch in der Familie erzählen die Täter dem Kind oft von einem Geheimnis, bedrohen es oder suggerieren ihm, dass es etwas Schlimmes tue. Ein Opfer erzählte, der Täter habe ihm ins Ohr geflüstert: „Das ist unser Geheimnis, das darfst du niemandem verraten. Sonst müssen wir alle ins Gefängnis.“

Weshalb ist der Missbrauch in der Familie besonders schlimm?

Weil die Kinder ihren wichtigsten Schutzraum verlieren. „Für Kinder bricht häufig ihre Welt zusammen. Sie verlieren schlicht ihr Zuhause“, sagt Tamara Luding, Mitglied im Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für sexuellen Missbrauch, einem Amt der Bundesregierung. Sie ist selber als Kind missbraucht worden. Missbrauchte Kinder sind in einer furchtbaren Situation. Der Vater wird ja oft nicht bloß als Täter, sondern auch als liebevoller Vater erlebt. Viele Betroffene sagen auch, ihre Mutter habe den Missbrauch geduldet, weil sie selber missbraucht oder geschlagen wurde oder weil sie emotional überfordert gewesen sei. Ein Opfer sagte: „Nach Monaten habe ich meinen Mut zusammengenommen und meine Mutter gebeten, dem Papi zu sagen, dass er das bitte nicht machen soll. Meine Mutter ist explodiert und nannte mich eine Hure und Schlampe, die nur die Ehre der Familie in den Dreck zerren wolle.“

Es gibt aber auch Mütter, die ihren Töchtern glauben, die dadurch aber einen Schock erleben. Die Opfer erfahren die Mütter mitunter als hilflos. Eine Mutter, überfordert von ihren Schuldgefühlen, sagte ihrer Tochter: „Warum hast du mir so einen Papa gesucht, warum nur?“ Täter können aber auch Großväter, Stiefväter, ältere Geschwister sein.

Am schlimmsten ist es, wenn sich ein Opfer zur Polizei traut, dort aber als Lügnerin dargestellt wird. Betroffene erzählen, dass sie als „Nestbeschmutzer“ angesehen wurden, welche die Familie zerstören. Selbst wenn ihnen geglaubt und sogar der Täter verurteilt wurde, blieb der Täter mitunter in der Familie oder wurde zu Familienfeiern eingeladen.

Was hat sich gebessert?

2010 informierte Pater Klaus Mertes, Rektor des jesuitischen Canisius-Kollegs in Berlin, die Öffentlichkeit, dass es an dem Elitegymnasium Jahre zuvor Übergriffe von zwei Patres und mindestens sieben Opfer, Schüler zwischen 13 und 17 Jahren, gegeben habe. Damit war das lange tabuisierte Thema sexueller Missbrauch schlagartig in der Öffentlichkeit. Endlich konnten Opfer ihre Stimme erheben, endlich hatten sie das Gefühl, dass ihnen zugehört wird. An einem Runden Tisch wurden Fragen geklärt mit Experten, Politikern und Betroffenen: Welche Hilfe und Unterstützung benötigen die Opfer? Was ist zu tun, wenn Übergriffe geschehen sind? Welche Faktoren fördern Übergriffe auf Kinder und Jugendliche und wie lassen sich diese vermeiden?

Zudem gibt es nun eine Aufarbeitungskommission, die vor allem dazu da ist, dass sich Opfer ihr mit ihrem Leid, ihren Sorgen, ihren Wünschen anvertrauen können. Die Kommission widmet sich vor allem dem Missbrauch in Familien. Sie gibt aber auch Empfehlungen, wie man Missbrauch möglichst eindämmen kann. Schulen und Kitas haben sich dem Thema geöffnet, Sportvereine besitzen Kinderschutzbeauftragte. Auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat sich des Themas angenommen. Mit dem Missbrauchsbeauftragten produzierte der Zentralrat den Flyer „Wer hilft mir helfen?“ in deutscher, hocharabischer und türkischer Sprache.

Was muss sich noch verbessern?

Sehr viel. Das Thema sexueller Missbrauch ist jetzt zwar in der Öffentlichkeit, doch noch immer gehen viele mit großer emotionaler Distanz an diese Problematik heran. Nicht zuletzt die Politik. Erst 2015 richtete der Bundestag die besagte Aufarbeitungskommission ein. „2010 hat das politische Berlin gehofft, das unangenehme Thema sexueller Missbrauch werde sich wieder in Luft auflösen“, sagt Rörig. Viele Betroffene erzählen, dass sie unsensibles, verletzendes Verhalten erlebt haben, durch Sachbearbeiter, Jugend- und Arbeitsämter, aber auch durch Gutachter, Ärzte und Lehrkräfte. Häufig würden diese nicht erkennen, wenn ein Mensch von sexueller Gewalt betroffen sei, klagen Opfer. Deshalb fordern Betroffene, dass in Aus- und Fortbildungen verstärkt über sexuellen Missbrauch informiert wird. Noch immer gibt es viele Opfer, die das Gefühl haben, man höre ihnen nicht zu. Es gibt Opfer, die erzählen, dass sie sich in ihrem Job nicht als Opfer sexueller Gewalt offenbaren können, weil ihnen ansonsten die Professionalität abgesprochen werden würde.

Und wenn es um Entschädigung geht, erhöht sich noch der Leidensdruck für viele Betroffene. Die Verfahren dauern sehr lang, sie sind bürokratisch, sie werden als nicht transparent empfunden. Viele Opfer sagen, sie würden deshalb bewusst keinen Antrag stellen.

Wo wird Opfern geholfen?

Die zentrale Nummer ist das kostenfreie und anonyme Hilfetelefon Sexueller Missbrauch (0800 - 22 55 530), die bundesweite Hotline des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Mehr Informationen zu Beratungs- und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter: www.hilfeportal-missbrauch.de

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