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Missbrauch findet auch in der Schule statt.

© dpa

Sexueller Missbrauch im Unterricht: Experten bemängeln fehlende Aufarbeitung an Schulen

Experten und Betroffene fordern, dass sexueller Missbrauch an Schulen konsequenter aufgearbeitet wird. An vielen Schulen gebe es aber gar kein Schutzkonzept.

Anna (Name geändert) war 14 Jahre alt, als ihr Deutschlehrer, 36 Jahre älter, sich für sie interessierte. Erst brachte er sie nach Hause, dann schauten sie zusammen Fußball. „Als ich 15 war“, sagt Anna, „da begann es dann körperlich.“

Erst hatte sie nicht das Gefühl, missbraucht zu werden, der Mann war doch erwachsen und lebenserfahren, das war doch alles in Ordnung. So dachte Anna. Und das Scheidungskind fühlte „sich wohl und geborgen bei dem Mann. Er war für mich ein Vaterersatz.“

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Aber der Vaterersatz begann bald zu brüllen, verärgert darüber, dass sie ab und an lieber zu ihren Freundinnen und zum Tennisunterricht ging als zu ihm. Dass er eine gleichaltrige Partnerin hatte, störte ihn nicht. Als 17-Jährige löste sich Anna langsam von ihm, als 18-Jährige vollzog sie den endgültigen Bruch.

Erst in einer Psychotherapie begriff Anna das Ausmaß der Taten

Erst im Anschluss wurde Anna bewusst, was sie da erlebt hatte. In einer Psychotherapie wurde ihr das Ausmaß der Taten bewusst. Jetzt hat Anna – inzwischen Mutter eines noch nicht schulpflichtigen Jungen – einen großen Wunsch: „Ich möchte, dass die Gesellschaft sensibilisierter für das Thema Missbrauch wird und dass jedem klar wird, dass in jeder Schule Missbrauch stattfinden kann.“

Anna schilderte ihre Geschichte am Mittwoch in Berlin bei einer Veranstaltung der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung Sexuellen Kindesmissbrauchs“. Thema der Anhörung: „Sexueller Kindesmissbrauch und Schule.“ Nicht wegschauen, Taten aufarbeiten, Tatorte benennen, Strategien der Vertuschung von Taten identifizieren, Lösungen zur Vermeidung von solchen Fällen finden, das ist das Hauptanliegen der Aufarbeitungskommission.

Und der Wunsch von Anna trifft sich mit der zentralen Zielstellung der Kommission: Kommissionsmitglied Brigitte Tilmann sagt: „Aufarbeitung verhindert, dass Vertuschung weitergeht. Nur wenn man fragt, wie es es dazu kommen, dass Taten nicht erkannt oder verdrängt wurden, kann man die Risiko, dass es weitere Taten gibt, verringern.“

Sexueller Missbrauch im Klassenzimmer

Die Kommission hat die Berichte von 160 Betroffenen ausgewertet, die an staatlichen Schulen missbraucht wurden. Tatorte waren Bibliotheken, Büros der Schulleitungen, Sanitätszimmer, aber in Einzelfällen sogar Klassenzimmer während Unterricht stattfand. Die Täter meist Lehrer, seltener auch Schulleiter oder andere Schüler. Neben Anna erzählten am Mittwoch auch andere Betroffene ihre Geschichten.

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An den Schulen ist dringend ein Mentalitätswechsel nötig, sagt Kommissionsmitglied Brigitte Tilmann. Zu oft seien Schulen um ihren guten Ruf besorgt und würden deshalb Taten entweder ignorieren oder nur sehr ungern aufarbeiten. „Man will als Schule nichts wissen, meist macht man sich erst Gedanken, wenn die Betroffenen einen ungeheuren Druck machen.“

Als Negativbeispiel nennt Tilmann die Odenwaldschule. 2010 war sie aktiv an der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an der Reformschule beteiligt. „Da gab es Hochglanzprospekte, auf denen die Schule der Zukunft gezeigt wurde. Die dunkle Vergangenheit wollte man aber hinter sich lassen.“ Doch dieser Ansatz hatte „fatale Folgen für Schule“. Der Ruf war der Schule war endgültig ruiniert.

Lehrerin wohl versetzt, weil sie Missbrauch anprangerte

Eine Lehrerin erzählte bei der Veranstaltung, dass sie – neu an ihrer Schule – ein sexualisiertes Verhalten bei einem nichtpädagogischen Mitarbeiter festgestellt und schriftlich dokumentiert habe. Das Verhalten sei dem Kollegium seit Jahren bekannt gewesen, ohne Reaktionen allerdings. Sie habe sich an die Schulleitung gewandt, aber als Reaktion darauf habe sie sich anschließend gemobbt gefühlt.

Letztlich sei sie an einer andere Schule versetzt worden, weil sie den Schulfrieden gestört habe. Der betroffene Mitarbeiter sei an eine andere Grundschule gekommen, allerdings sei das kein Schuldeingeständnis gewesen. „Mutige Lehrer werden an einer Schule nicht mit offenen Armen empfangen“, sagte die Pädagogin.

Nach einer Studie von 2018 wird nur an 13 Prozent aller Schulen in Deutschland ein umfassendes Schutzkonzept umgesetzt. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann sagte am Mittwoch dazu: „Die Erkenntnis, dass eine Schule Tatort sein kann, hat sich an staatlichen Schulen noch nicht überall durchgesetzt.“

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