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Frauen und Männer protestieren nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht am Samstag in Köln vor dem Dom gegen Rassismus und Sexismus.

© Oliver Berg/dpa

Update

Sexuelle Übergriffe in der Silvesternacht: „Nein, nein und nochmal nein"

Monika Hauser, Gründerin von Medica Mondiale, über das überkommene deutsche Sexualstrafrecht und die Täter von Köln und anderswo: Die Männer sollten sich schämen, sagt sie im Tagesspiegel-Interview.

Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie von den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht auf dem Domplatz in Köln gehört haben?

Ich habe mich gefragt: Wie geht es den betroffenen Frauen jetzt? Natürlich auch: Ist irgendjemand diesen Frauen zu Hilfe gekommen? Oder haben wieder alle nur zugeschaut? Dann habe ich mir überlegt: Hoffentlich gehen die Polizeibeamtinnen und -beamten bei der Befragung sensibel mit den Frauen um. Das ist ja seit Jahrzehnten immer wieder ein großes Problem. Und: Wird den Frauen direkt psychologische Hilfe angeboten? Das sind die Dinge, die mir als erstes durch den Kopf gingen.

Was kann den Frauen jetzt helfen?

Die kostenlose psychologische Beratung und Unterstützung ist sicherlich das erste. Gegebenenfalls, wenn die Frauen das wünschen, sogar in Gruppen. Damit haben wir vor Ort gute Erfahrungen gemacht. Es kann leichter sein, solche Erlebnisse zu verarbeiten, wenn man gemeinsam darüber sprechen kann. Natürlich unter professioneller Anleitung, denn die Emotionen sollen ja nicht gegenseitig verstärkt werden. Es kann positiv sein, zu wissen: Ich bin nicht die einzige. In dem Fall dürften das inzwischen die meisten wissen. Aber wichtig ist, nicht isoliert zu sein und zu denken: „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Oder „Was hat das mit mir zu tun?“. Das zweite ist die juristische Bearbeitung, die sehr wichtig ist. Und damit geht einher eine gesellschaftliche Anerkennung.

Was meinen Sie damit?

In diesem Fall sind Medien und Öffentlichkeit alarmiert. Aber das Thema ist ja allgegenwärtig in Deutschland. Wir haben sehr hohe Zahlen sexualisierter Gewalt in Deutschland. Und jetzt tun alle so, als hätte der Meteorit in Köln am Hauptbahnhof eingeschlagen. Es ist schrecklich, was da passiert ist. Die Frauen brauchen Unterstützung, und ich kann nur erahnen, in welcher Paniksituation sie gewesen sind, auch ihre Begleiter. Das wird lange negativ nachwirken. Solche Paniksituationen können eine traumatisierende Wirkung auf die Menschen haben. Hinzu kommt die Demütigung durch sexualisierte Gewalt. Aber ich warne vor politischer Instrumentalisierung, wie wir sie gerade erleben. Seit Jahrzehnten ist sexualisierte Gewalt in Deutschland weit verbreitet, und es wird nicht viel dagegen getan.

Ist denn das deutsche Sexualstrafrecht überhaupt noch zeitgemäß?

Nein, nein und nochmals nein. Es geht immer noch nicht darum, dass der Wille der Frau maßgeblich ist. Kurz vor Weihnachten hat das Kanzleramt offenbar grünes Licht für eine Strafrechtsverschärfung gegeben. Endlich. Seit der Istanbul-Konvention des Europarates aus dem Jahr 2011 steht der Vergewaltigungsparagraf 177 im Strafgesetzbuch zur Debatte. Sie hat deutlich gemacht, dass es bei dieser Art von Gewalt um eine nicht einvernehmliche sexuell bestimmte Handlung geht, und dass der Wille der Frau gilt. Ein Nein muss ein Nein sein. Das Justizministerium hat im Sommer einen Vorschlag gemacht, der uns zwar nicht weit genug geht, aber ein paar wichtige Lücken im Recht schließt. Dem Opfer wird damit zum Beispiel zugestanden, dass es "wegen der Überraschung über die Tat nicht zum Widerstand in der Lage" war. Das Kanzleramt hatte diesen Vorschlag seit Juli blockiert. Vor zwei Tagen hat Angela Merkel zum ersten Mal in ihrer zehnjährigen Kanzlerschaft über sexualisierte Gewalt öffentlich gesprochen. Sie sagte, dass auch sie sich als Frau bedroht fühlt. Warum erst jetzt? Wenn wir uns vor Augen halten, dass in Deutschland jedes Jahr rund 8000 Vergewaltigungen angezeigt werden, und dass das nur etwa acht Prozent der realen Fälle sind, können wir mit mehr als 100 000 Vergewaltigungen oder sexuellen Nötigungen im Jahr in Deutschland rechnen. Das ist doch ein Skandal.

Ist Ihnen außerhalb von Kriegs- und Bürgerkriegssituationen schon einmal ein Fall von so massiver Belästigung untergekommen?

Ja, natürlich. Ägyptische, brasilianische oder indische Großstädte zum Beispiel. Dort werden Spaziergänge oder Einkäufe für Frauen oft genau zu so einem Spießrutenlaufen. In Japan ist sexualisierte Gewalt in den überfüllten U-Bahnen endemisch. Dort haben Bahngesellschaften auf Drängen von Feministinnen in Tokio sogar Frauenwaggons eingeführt. Oder politischen Protesten wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder bei den Protesten vom Gezi-Platz in Istanbul sind sexuelle Übergriffe allgegenwärtig. Aber ich möchte auch nach Deutschland schauen: Oktoberfest, Karneval, Betriebsfeste. Auch da kommt es regelmäßig und weit verbreitet zu sexuellen Übergriffen. Beim Oktoberfest gibt es seit 2004 eine Aktion, die sich „Sichere Wies’n für Frauen“ nennt. Da gibt es einen Security-Point, wo sich jedes Mal Hunderte Frauen hinwenden, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Es gibt sogar eine eigene App dafür. So was gibt es beim Kölner Karneval noch nicht. Aber die Übergriffe schon. Und die Frauen wissen: Wenn sie sich beschweren, geben sie sich der Lächerlichkeit Preis. Motto: Dem Opfer wird die Schuld gegeben. Aufgrund der Brisanz passiert das im aktuellen Fall gerade nicht mehr. Aber so etwas erleben viele Frauen bei anderen Gelegenheiten.

Aber es gibt doch noch einen Unterschied. Es sind doch meistens Einzeltäter. Dass sich Männer verabreden, um Frauen sexuell zu belästigen, ist doch eher die Ausnahme, oder?

Das wäre tatsächlich etwas Neues. Aber wir kennen ja noch nicht die Fakten. Es könnte sein, dass da mehrere Dinge zusammen gekommen sind. Das erste sind diese kleinkriminellen Diebesbanden am Kölner Hauptbahnhof, die es seit Jahren gibt. Seit Jahren macht die Kölner Polizei da nichts Effizientes. Es gibt noch nicht einmal ein Zentralregister, in dem die Namen dieser Täter gespeichert würden. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich diese Banden zu Silvester als günstige Gelegenheit verabredet haben und womöglich auch noch durch den einen oder anderen Cousin oder Bruder verstärkt haben. Das andere ist, dass ausgelassene Männer mit viel Alkohol und Feuerwerkskörpern gefeiert haben und darunter wohl auch Flüchtlinge „mitgefeiert“ haben. Wie weit diese straffällig geworden sind, wird der abschließende Polizeibericht feststellen. So wie auch beim Oktoberfest Männer jeglicher Nationalität sexuell übergriffig werden. Mir ist egal, woher diese Männer kommen. Tatsache ist, Männer müssen meistens für sexuelle Übergriffe nicht mit Bestrafung rechnen - in der Masse erst recht nicht. Das ist natürlich weltweit ein Problem: Deshalb gibt es Medica Mondiale. Das Schweigen, diese Wegschaukultur macht das doch überhaupt erst möglich. Ob sich Männer gezielt verabredet haben, um Frauen sexuell zu belästigen bis hin zu Vergewaltigungen, was eine neue Dimension wäre, wissen wir noch nicht.

Was lässt sich aus Ihrer Arbeit mit Medica Mondiale lernen, was bei der Bewältigung jetzt helfen könnte?

Hinter dem Spektakulären – in Deutschland ist das jetzt die Kölner Silvesternacht, im Ausland sind es Boko Haram und der selbst ernannte Islamische Staat – bleibt die übliche Kriegsvergewaltigung oder die alltägliche sexualisierte Gewalt in Deutschland unsichtbar. Das darf aber nicht passieren. Die Täter müssen dingfest gemacht werden und in Strafverfahren, in denen die Frauen hinreichend physisch und psychisch geschützt werden und ein Nebenklagerecht haben, verurteilt werden. Das ist sehr wichtig für die Frauen. Und die gesellschaftlichen Wurzeln dieser Übergriffe müssen angegangen werden. Jetzt haben wir die traurige Chance, das endlich zu tun. Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über Männlichkeitsbilder. Wieso findet sich ein Mann toll, wenn er eine Frau erniedrigt? Er müsste sich doch in Grund und Boden schämen, und zwar der Feiernde in der Kölner Silvesternacht genauso wie der bayerische Oktoberfestbesucher. Die Täter müssen sich schämen, nicht die Frauen.

Anmerkung: In der ersten Fassung des Interviews waren einige Veränderungen, die Monika Hauser erbeten hatte, nicht enthalten. Beim Kopieren sind die Änderungen teilweise verloren gegangen. Wir bedauern den Fehler.

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