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Zerstörte Gebäude in der ostukrainischen Stadt Lyssytschansk und schwarzer Rauch aus der Nachbarstadt Sjewjerodonezk.

© ARIS MESSINIS/AFP

Selenskyj spricht von „schwierigen Schlachten“: „Russland will jede Stadt im Donbass wie Mariupol zerstören“

Die Kämpfe in der Ostukraine dauern an, der Präsident pocht auf weitere Waffenlieferungen. Derweil gibt es von Kiew eine Schätzung zur Zahl gefallener Soldaten.

In gut dreieinhalb Monaten des russischen Angriffskrieges sind nach Regierungsangaben etwa 10.000 ukrainische Soldaten getötet worden. Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj machte die Zahl in der Nacht zum Samstag öffentlich.

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In der Ostukraine gehen unterdessen die Kämpfe ohne große Veränderungen des Frontverlaufs weiter. Die ukrainische Seite spricht von Erfolgen ihrer Artillerie dank westlicher Munition - und appelliert, das Tempo der Waffenlieferungen zu erhöhen.

„Russland will jede Stadt im Donbass zerstören, „jede“ ist keine Übertreibung. Wie Wolnowacha, wie Mariupol“, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache am Freitagabend.

„All diese Ruinen in einst glücklichen Städten, schwarze Spuren von Bränden, Krater von Explosionen - das ist alles, was Russland seinen Nachbarn, Europa und der Welt geben kann“, führte Selenskyj weiter aus.

Die Zahl von rund 10.000 getöteten ukrainischen Soldaten stammt vom Präsidenten-Berater Olexij Arestowytsch. Er nannte sie in einem seiner regelmäßigen Youtube-Videointerviews mit dem russischen Oppositionellen Mark Feygin.

Diese Woche hatte Verteidigungsminister Olexij Resnikow bereits gesagt, dass aktuell täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet würden. Arestowytsch betonte, dass auf ukrainischer Seite auch zu Beginn des Krieges rund 100 Militärangehörige pro Tag gestorben seien.

Auf Feygins Frage, ob man also von rund 10 000 getöteten Soldaten insgesamt ausgehen könne, antwortete Arestowytsch: „Ja, so in etwa.“

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Weder von der Ukraine noch von Russland gab es bisher erschöpfende Angaben zu den Verlusten in dem am 24. Februar begonnenen Krieg. Selenskyj hatte zuletzt Mitte April in einem CNN-Interview von bis zu 3000 getöteten Soldaten gesprochen.

Dringlicher Ruf nach schnelleren Waffenlieferungen

Laut Arestowytsch werden dauerhaft mehr russische als ukrainische Soldaten getötet. Am Freitag seien die Angriffe der ukrainischen Artillerie mit westlicher Munition besonders effizient gewesen, sagte er und gab die Schätzung von rund 600 getöteten russischen Soldaten ab.

Mit Blick darauf appellierte der Selenskyj-Berater an den Westen, viel schneller Waffen und Munition zu liefern. Die ukrainische Regierung sei zwar für die bisherige Hilfe sehr dankbar, ohne die man vermutlich bereits hinter den Dnipro-Fluss zurückgedrängt worden wäre. Er verstehe aber die Langsamkeit bei den Lieferungen nicht.

Ein ukrainischer Panzer im Gefecht nahe der Stadt Soledar in der Region Donezk.
Ein ukrainischer Panzer im Gefecht nahe der Stadt Soledar in der Region Donezk.

© Anatloii Stepanov/AFP

Um die russische Aggression zurückzuschlagen, brauche die Ukraine unter anderem schnell mehr Artillerie-Feuerkraft, betonte Arestowytch.

Auch Selenskyj selbst dringt beim Westen auf schnellere Waffenlieferungen. Zwar bereite sich die ukrainische Regierung auf den Wiederaufbau vor, sagte er in seiner täglichen Videoansprache. Aber in den derzeitigen „schwierigen“ Schlachten werde entschieden, wie schnell diese Zeit danach kommen werde. Und die ukrainischen Truppen könnte den Vormarsch des russischen Militärs nur so gut aufhalten, wie ihre Waffen es ihnen erlaubten.

Bürgermeister von Mariupol: Russen reißen Häuser mit Toten ab

Der von russischen Truppen aus Mariupol vertriebene Bürgermeister Wadym Boitschenko hat den Besatzern vorgeworfen, in der Stadt Mehrfamilienhäuser abzureißen, ohne zuvor die Leichen getöteter Bewohner zu bergen. Die Toten würden mit dem Schutt abtransportiert, schrieb Boitschenko am Freitag bei Telegram.

In der wochenlang von russischen Truppen belagerten Hafenstadt seien 1300 Gebäude zerstört worden und unter den mehrstöckigen Häusern würden jeweils 50 bis 100 Tote vermutet. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

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Ukrainische Behörden schätzten die Zahl der in Mariupol getöteten Zivilisten noch vor der Eroberung durch russische Truppen auf bis zu 20.000.

Russland händigt in ukrainischem Gebiet russische Pässe aus

Russland setzt seine Versuche fort, besetzte ukrainische Gebiete enger an sich zu binden. In den von russischen Truppen kontrollierten Teilen der Region Saporischschja sollen von Samstag an russische Pässe ausgehändigt werden.

Die Empfänger würden danach als vollwertige Bürger Russlands betrachtet, sagte ein Mitglied der Besatzungsbehörden, Wladimir Rogow, dem Fernsehsender Rossija-24. Ihm zufolge haben dort mehr als 70.000 Menschen Anträge gestellt.

Präsident Wladimir Putin hatte im Mai das Verfahren für den Erhalt russischer Pässe vereinfacht. Russland verteilt sie auch in anderen besetzen Gebieten und führt dort auch den Rubel als Zahlungsmittel ein.

Ukrainische Behörden werfen den Besatzern vor, Menschen in die russische Staatsbürgerschaft zu drängen und befürchten eine Annexion der besetzten Gebiete. Laut Arestowytsch wurde im besetzten Gebiet Cherson ein russischer General getötet, der eine Volksabstimmung über einen Anschluss an Russland habe durchführen sollen.

Das wird am Samstag wichtig

Der Verlauf der Kämpfe in der ostukrainischen Industrieregion Donbass bleibt weiter im Mittelpunkt.

Derweil setzt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seine Balkan-Reise in Nordmazedonien und Bulgarien fort. Dabei wird es um den Streit zwischen den beiden Ländern über einen EU-Beitritt Nordmazedoniens gehen, aber auch um die Ukraine. Seine Forderung, dass es für die Ukraine keine Abkürzung in die EU geben könne, begründet Scholz damit, dass man dies auch den Westbalkanstaaten schuldig sei. Auf dem EU-Gipfel am 23. und 24. Juni wollen sich die EU-Staaten zum Kandidatenstatus der Ukraine, Georgiens und Moldau positionieren. (dpa, AFP)

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