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Ebola-Bekämpfung im Kongo 2018: Die meisten Seuchen erreichen den globalen Norden nicht.

© Olivia Acland/ REUTERS

Selbsttäuschung westlicher Gesellschaften: Viren standen am Anfang der Globalisierung. Bisher trafen sie meist die anderen

Dieser Teil der Geschichte wurde aus dem kollektiven Gedächnis getilgt. Neu an Corona ist, das dieses Virus alle bedroht. Ein Gastbeitrag.

Jürgen Zimmerer ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg und leitet seit 2014 die Forschungsstelle Hamburgs koloniales Erbe

Läutet das Coronavirus das Ende der Globalisierung ein? Manche Kommentatoren scheinen das anzunehmen. Grenzen sind geschlossen, Passagierflüge bleiben am Boden, Versorgungsketten sind unterbrochen. Wie kein anderes Thema versinnbildlicht die derzeitige Gesundheitskrise die sprichwörtliche Verwundbarkeit unserer modernen, vernetzten Gesellschaften. Keine Grenze kann Viren aufhalten, und gerade das Kennzeichen der globalisierten Gesellschaft, der Verkehr und der Austausch von Menschen und Gütern, führt auch zur besonders rasanten Verbreitung von Krankheiten und Seuchen. Die Lebensadern der modernen globalisierten Welt transportieren eben nicht nur Nährstoffe.  

Die globalisierte Wirtschaft macht die Menschen im Süden schon lange krank

Hier, wie auch an anderer Stelle, etwa in der Klimakrise, zeigt sich aber eine große Selbsttäuschung westlicher Gesellschaften: Globalisierte Wirtschaft, Raubbaukapitalismus und Verschwendungsökonomie mit ihren Ideologien des permanenten Wachstums machten auch vorher schon krank. Das geschah nur nicht bei uns, nicht in unserer Region, nicht in unserer sozialen Schicht, der der kosmopolitischen Globalisierungsgewinnler. 

Umweltverschmutzung in den Ländern der Billigproduktion, Export von toxischem Elektroschrott und anderem Müll in Länder des Globalen Südens, auch das hatte gesundheitliche Folgen, ebenso wie psychische Erkrankungen einschließlich Suchterkrankungen im reichen Norden, etwa auf Grund des sozial-ökonomischen Verdrängungswettbewerbs in den unteren Bereichen der sozialen Verteilungskurve, am Fuße der Waren- und Konsumkette.  

Ein Virus erscheint dagegen egalitär, auch wenn sich in jeder Gesundheitskrise über kurz oder lang soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten einstellen werden: Manche Gesellschaften werden besser und andere schlechter damit umgehen können, auf Grund ihrer wirtschaftlichen Verfasstheit und Macht, und davon abgeleitet der Leistungsfähigkeit, ja überhaupt der Existenz eines Gesundheitssystems. Es steht zu vermuten, dass dies im Wesentlichen das globale Wohlstandsgefälle repliziert. 

Das Ebola-Virus hat nie die Aufmerksamkeit bekommen wie Corona

Zunächst aber kann dieser Virus alle infizieren, und er schränkt alle ein. Deshalb macht er uns allen Angst, deshalb reagieren auch wir derart drastisch, panisch fast. Deshalb bekommt das Coronavirus SARS-CoV-2 Virus die Aufmerksamkeit, die etwa der – nach derzeitigem Kenntnisstand – um ein vielfaches gefährlichere Ebola-Virus nie bekommen hat. Letzterer entfaltet seine tödliche Wirkung vor allem in West- und Zentralafrika. Da dort nicht einmal zahlungskräftige Kunden sind, vernachlässigten die großen Pharmakonzerne lange sogar Erforschung von Krankheit und Wirkstoff. 

Aber bedeuten Viren das Ende der Globalisierung? Kaum anzunehmen, denn der historische Blick lehrt, dass Viren eigentlich am Anfang der Globalisierung standen. Es ist ein Teil der Geschichte, der auf Grund seiner tödlichen Wirkung buchstäblich aus dem kollektiven Gedächtnis der Welt getilgt wurde.

Es offenbart deshalb eine tiefe Ironie, wenn US-Präsident Trump oder der brasilianische Präsident Bolsanero in ihrem Aktionismus gegen den "ausländischen" Virus die Grenzen zu Europa zumachen, gäbe es doch beide Staaten in der heutigen Form überhaupt nicht ohne Viren, die aus Europa eingeschleppt wurden.  

100 Millionen Menschen gingen in Amerika an Krankheiten der Eroberer zugrunde

Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber die moderne Forschung geht davon aus, dass bis zu 100 Millionen Menschen ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert in den beiden Amerikas an Krankheiten zugrunde gingen, die die europäischen Eroberer und Missionare mit sich brachten. Diese demographische Katastrophe erleichterte den Europäern ihren kolonialen Siegeszug, wenn er ihn nicht gar erst ermöglichte. 

Erheblich geschwächt, hatten die indigenen Gesellschaften kaum Möglichkeiten effektiver und nachhaltiger Gegenwehr. Die Siedlergesellschaften Nord- wie Südamerikas entstanden buchstäblich in der Schneise, welche Bakterien und Viren geschlagen hatten.  

Diese europäischen Niederlassungen, Kolonien eben, trugen ganz erheblich dazu bei, Europa als ökonomisches und politisches Zentrum der Welt zu installieren. Im zwanzigsten Jahrhundert erfolgte zwar die Machtverlagerung vom "alten" auf den "neuen" Kontinent, es blieb aber europäisch geprägt. Auch deshalb spricht man vom Globalen Norden.    

Anzunehmen, ein über 600 Jahre sich verstärkender Prozess der (kolonialen) Globalisierung würde enden oder sich umkehren, nur weil die bisherigen hauptsächlichen  Nutznießer in Quarantäne müssen oder wollen, ist naiv. Wenn Produktions- und Versorgungsketten reißen, wird Wohlstandsverlust dort eintreten, wo nicht produziert, geschürft oder angebaut werden kann.

Europa lebt dabei seit 600 Jahren über seine Verhältnisse. Wenn es aus der Globalisierung ausscheidet, dann nicht zu den Bedingungen des Status Quo. Es kann gut sein, dass Covid-19 den Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Globalisierung erheblich beschleunigt, oder sogar eine neue hegemoniale ökonomische und politische Ordnung einläutet. Es spricht einiges dafür, dass diese ihr Zentrum dort hat, von wo sich der Virus ausbreitete. Wie gesagt, das folgte durchaus historischen Mustern.  

Jürgen Zimmerer

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