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Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer provoziert gerne mit seinen Äußerungen.

© Carsten Koall/dpa

„Sein Geschäftsmodell schadet der Partei“: Parteiausschluss, Verlust des OB-Amtes – was Boris Palmer nun droht

Der Tübinger Oberbürgermeister stelle sich bewusst gegen die Werte der Grünen, kritisiert Parteichefin Annalena Baerbock. Die Partei prüft Sanktionen.

Seine Geduld mit Boris Palmer sei „wirklich erschöpft“, sagt Robert Habeck. Der Grünen-Chef ist am Sonntagabend zu Gast bei Anne Will, in der Talkshow muss er sich für Äußerungen seines Parteikollegen, des Tübinger Oberbürgermeisters Palmer, rechtfertigen. Dieser hatte den Lockdown in Deutschland wegen der Corona-Pandemie kritisiert – und mit dem Satz provoziert: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

„Falsch und herzlos“ sei dieser Satz gewesen, kritisiert Habeck. Er könne den Eindruck erweckt haben, dass es sich nicht lohne, um Menschenleben zu kämpfen - „vielleicht war es auch so gemeint“. Mit solchen Äußerungen schade Palmer der Debatte „weit über das parteischädigende Verhalten hinaus“. Am Tag danach ist Palmer auch Thema in den Beratungen des Bundesvorstands.

In einem ersten Schritt entzieht die Grünen-Führung dem Tübinger Oberbürgermeister die politische Unterstützung. Die Partei werde Palmer bei einer erneuten Kandidatur in Tübingen und bei weiteren politischen Tätigkeiten nicht mehr unterstützen, sagte Grünen-Chefin Annalena Baerbock.

Weitere Sanktionen werden geprüft

Palmers Agieren folge einem Muster. In unschöner Regelmäßigkeit stelle er sich "bewusst provokativ gegen die Werte der Grünen", häufig, indem er Menschen ausgrenze. Darauf folge eine halbgare Entschuldigung, kurz danach lege er nach. „Dieses Geschäftsmodell Palmer schadet der Partei“, sagt Baerbock. Gemeinsam mit dem Landesvorstand Baden-Württemberg werde nun geprüft, welche weiteren Sanktionen parteirechtlich möglich seien und Aussicht auf Erfolg hätten. Das Gespräch soll an diesem Freitag stattfinden.

Immer wieder hatte Palmer in den letzten Jahren mit Bemerkungen oder Facebook-Einträgen provoziert; vor allem in der Asyl- und Flüchtlingspolitik grenzt er sich scharf vom Kurs seiner Partei ab. Viele seiner Parteifreunde waren zuletzt dazu übergangen, seine Bemerkungen zu ignorieren, um ihm keine Aufmerksamkeit zu verschaffen. Doch nun könnte es sein, dass Palmer einen Schritt zu weit gegangen ist.

Parteikollegen fordern Palmers Ausschluss

Der frühere Bundestagsabgeordnete Özan Mutlu hatte in den letzten Tagen einen offenen Brief initiiert, in dem sich mehr als 100 Grüne für dessen Parteiausschluss aussprechen. Palmers parteischädigende Äußerungen zeigten, dass die Grünen „längst nicht mehr seine politische Heimat“ seien, heißt es in dem Schreiben. Darin werden der baden-württembergische Landesvorstand und der Kreisvorstand Tübingen aufgefordert, ein Parteiordnungsverfahren oder Parteiausschlussverfahren gegen Palmer anzustrengen.

Doch einen Parteiausschluss vor einem Schiedsgericht durchzusetzen, gilt als extrem schwierig. Das zeigen auch Beispiele aus anderen Parteien, wie etwa das langwierige Verfahren innerhalb der SPD gegen den früheren Berliner Justizsenator Thilo Sarrazin.

In der Satzung der Grünen heißt es, wer „vorsätzlich“ gegen die Satzung oder „erheblich“ gegen Grundsätze oder Ordnung von Bündnis 90/Die Grünen verstoße und der Partei damit schweren Schaden zufüge, könne ausgeschlossen werden. Doch es gibt auch andere Sanktionsmöglichkeiten unterhalb eines Parteiausschlusses: Dazu gehören eine Verwarnung, eine Enthebung von einem Parteiamt oder die Aberkennung der Ämterfähigkeit bis zur Höchstdauer von zwei Jahren oder das zeitweilige Ruhen der Mitgliedsrechte bis zu zwei Jahren.

Palmer selbst hatte sich in den vergangenen Tagen für seine Äußerungen entschuldigt, falls er sich „missverständlich oder forsch ausgedrückt“ habe. Es tue ihm leid, dass er mit seinen Aussagen Menschen verletzt habe.

Zugleich sagte er, er fühle sich falsch dargestellt. Ihm sei es bei den Aussagen um armutsbedrohte Kinder vor allem in Entwicklungsländern gegangen, deren Leben durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht seien. „Der Shutdown, wie wir ihn betreiben, versucht das Leben hochaltriger, schwer kranker Menschen in den reichen Ländern zu verlängern und kostet eine viel größere Zahl von Kindern in armen Ländern das Leben“, hatte er gesagt.

Seine Äußerungen sieht Palmer in Übereinstimmung mit den grünen Grundwerten. Die Grünen hätten sich immer für Entwicklungsländer verantwortlich gefühlt. „Hingegen widerspricht die Absicht, Diskussionen durch Parteiausschluss zu beenden, dem Geist und der Satzung unserer Partei“, so Palmer.

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„Der Schutz des Lebens und der Gesundheit steht an oberster Stelle“

Lange hatte der streitlustige Palmer die Rückendeckung von Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann genossen. Doch beim virtuellen kleinen Parteitag der Grünen am Wochenende hatte Kretschmann „kluges und verantwortungsvolles“ Handeln in der Corona-Krise angemahnt und einen klaren Kompass eingefordert. „Der Schutz des Lebens und der Gesundheit steht für mich an oberster Stelle“, sagte er. Parteifreunde verstanden das als klare Distanzierung von Palmer, auch wenn er diesen namentlich nicht erwähnte.

Auch Palmers Kreisverband Tübingen hatte sich von dessen Äußerungen klar abgegrenzt. Der Grünen-Fraktionschef im Tübinger Gemeinderat, Christoph Joachim, sagte am Montag, er werde seiner Partei empfehlen, Palmer für die nächste Oberbürgermeisterwahl 2022 nicht noch einmal zu nominieren.

Palmer leiste sich regelmäßig Ausfälle, sagte er den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. „Und jetzt grenzt er die Alten aus - das geht nicht.“ Überhaupt sei das Verstehen von Menschen "nicht so sein Ding". Doch mit einem rein mathematischen Verstand könne man eine Stadt nicht führen.

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