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Furcht vor Wiederholung. Am 20. Jahrestag der Anschläge von 9/11 werden die letzten US-Soldaten Afghanistan verlassen. Sicherheitsexperten befürchten schwere Anschläge von Al Qaida gegen den Westen

© dpa/Hubert Boesl

Exklusiv

Schwere Anschläge gegen den Westen befürchtet: Al Qaida wird vom Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan profitieren

20 Jahre nach dem Terrorangriff auf die USA befürchten deutsche Sicherheitsexperten, dass sich der Schrecken wiederholen könnte.

Von Frank Jansen

Die Sorgen sind gewaltig. Angesichts des bevorstehenden Abzugs der Truppen der USA und der NATO-Partner aus Afghanistan warnen deutsche Sicherheitsexperten vor wachsender Terrorgefahr. „Al Qaida wird größere Spielräume bekommen“, sagt August Hanning, von 1998 bis 2005 Präsident des Bundesnachrichtendienstes.

Denn es sei wahrscheinlich, dass die mit Al Qaida verbündeten Taliban „in einem Großteil des Landes die Macht übernehmen“. In den Sicherheitsbehörden wird sogar das „worst case scenario“ durchgespielt, dass Al Qaida in einem Taliban-Staat wieder große Anschläge auf den Westen planen kann.

Wie vor 20 Jahren. Im Frühjahr 2001 war die Terrororganisation mitten in den Vorbereitungen für den Angriff mit Flugzeugen auf die USA. Am 11. September war es soweit. Zwei entführte Passagiermaschinen rasten in New York in die Zwillingstürme des World Trade Centers, ein weiteres Flugzeug bei Washington ins Pentagon.

Die vierte Maschine stürzte ab, als die Passagiere mit den Terroristen kämpften. Mehr als 3000 Menschen kamen bei „9/11“ ums Leben. Dass US-Präsident Joe Biden nun verkündet, am 11. September 2021 werde der letzte US-Soldat Afghanistan verlassen, hat für deutsche Sicherheitsexperten einen bitteren Beigeschmack.

"Al Qaida hat einen langen Atem"

„Al Qaida konnte am 11. September 2001 triumphieren und kann es am 20. Jahrestag wieder“, sagt ein hochrangiger Sicherheitsexperte, der namentlich nicht genannt werden möchte. Am 11. September 2021 werde deutlich, „20 Jahre waren für nichts“. Die Gefahr, „dass sich 9/11 wiederholt, wächst absolut.“

Al Qaida habe einen langen Atem, viel Geld und könne mühelos junge Männer für Anschläge rekrutieren. Ob in Afghanistan, Pakistan oder auch in Afrika, wo sich die Filialen der Terrororganisation schon lange halten. Und Al Qaida habe den Ehrgeiz, mit einem lang geplanten, großen Anschlag dem konkurrierenden IS zu zeigen, „wer die Nummer Eins im Terrorismus ist“.

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Dass Afghanistan für Al Qaida kein sicherer Hafen werden soll, wie es die Taliban in dem Abkommen zusagten, das sie im Februar 2020 mit den USA in Katar schlossen, hält der Sicherheitsexperte für ein „Lippenbekenntnis“. Zumal die Taliban selbst weiterhin Anschläge verüben.

Taliban und Al Qaida seien in Afghanistan und Pakistan eng verwoben, sagt der Experte. Dass die Taliban 2001 ihren Staat verloren, als die Amerikaner wegen des Angriffs von 9/11 in Afghanistan einmarschierten, habe  nicht zum Bruch mit Al Qaida geführt.

Die Bilanz der Bekämpfung von Al Qaida ist denn auch mäßig. Die US-Armee und ihre Verbündeten zerschlugen die Infrastruktur der Terrororganisation mit etwa 30 Trainingscamps in Afghanistan, doch Al Qaida wich nach Pakistan aus. Erst 2011 gelang es einem US-Kommando, Al-Qaida-Chef Osama bin Laden zu töten.

Er hatte sich in der pakistanischen Stadt Abbottabad versteckt. Ex-BND-Chef Hanning wie auch viele andere Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass der pakistanische Geheimdienst ISI seine schützende Hand über bin Laden gehalten hatte. Wie auch bis heute über die Taliban. Und so konnte auch Al Qaida in der pakistanisch-afghanischen Grenzregion Waziristan überleben, wieder in Afghanistan einsickern und weitere große Anschläge initiieren.

Bei den Anschlägen in Madrid starben 191 Menschen

Auch in Europa. Im März 2004 starben beim Angriff einer Terrorgruppe auf Vorortzüge in Madrid 191 Menschen. Die Attentäter, die im Januar 2015 in Paris die Redaktion von „Charlie Hebdo“ überfielen und zwölf Menschen erschossen, hatte die jemenitische Filiale von Al Qaida geschickt.

Die Terrororganisation beteiligte sich zudem mit schweren Anschlägen am Widerstand gegen die US-Truppen nach deren Einmarsch im Irak. Al Qaida hat sich international ausgebreitet, Filialen und Verbündete gibt es in Afrika, im Jemen, in Syrien, in Indien und weiteren Ländern.

Der Nachfolger von Osama bin Laden an der Spitze von Al Qaida, der Ägypter Aiman as Sawahiri, ist bis heute nicht gefasst. Sicherheitskreise vermuten, Sawahiri halte sich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet auf. Als Chef der „Kern-Al-Qaida“, wie die Behörden die Zentrale der Organisation nennen, sei er weiter in die Planung von Anschlägen eingebunden.  

Ex-BND-Chef Hanning hat indes die vage Hoffnung, die Taliban könnten nach der zu erwartenden Machtübernahme ihren Verbündeten auch bei größeren Freiräumen etwas „zügeln“. Die Taliban wären als Herrscher Afghanistans auf ausländische Hilfe angewiesen, um die Wirtschaft zu beleben, sagt Hanning.

Angriffe, die Al Qaida von Afghanistan aus plane, würden das Land hingegen zum Ziel militärischer Vergeltungsschläge machen. Eine halbwegs pragmatische Politik der Taliban sei das „best case scenario“, sagt Hanning. Doch selbst die Amerikaner bezweifeln, die von Al Qaida ausgehende Gefahr könnte nachlassen.

Im Januar stellte das US-Finanzministerium in einem Bericht fest, Al Qaida habe 2020 in Afghanistan an Stärke gewonnen, agiere gemeinsam mit den Taliban und befinde sich unter deren Schutz. Dafür erhielten die Taliban von Al Qaida finanzielle Unterstützung und „Beratung“. Im Report wird auch erwähnt, das Haqqani-Netzwerk der Taliban, eine Kerntruppe und berüchtigt für zahlreiche Anschläge in Afghanistan, diskutiere über die Aufstellung einer gemeinsamen Kampfeinheit mit Al Qaida.

Hanning warnt vor neuer "Migrationskrise"

Trotz der Gefahr, dass Afghanistan bald wieder an die Taliban fällt, sieht Hanning keine Alternative zum Abzug. „Wir waren viel zu lange im Land“, sagt der frühere BND-Präsident. Die Besatzungszeit sei letztlich ein Nährboden für den Widerstand der Taliban gewesen „und für die Korruption“. Es sei eine „völlige Illusion“ gewesen, in Afghanistan einen modernen Staat nach westlichem Muster errichten zu können. Jetzt würden Taliban und Al Qaida von der Stimmung in Teilen der Bevölkerung „gegen die Fremden“ begünstigt.

Den Abzug der westlichen Truppen, da ist Hanning sicher, werden Taliban und Al Qaida feiern. Und spätestens nach einer Machtübernahme der Taliban würden hunderttausende Afghanen fliehen. Aus Angst vor der Rache der Islamisten an allen, die angeblich oder tatsächlich mit dem verhassten Westen kooperiert haben. Deutschland drohe dann, sagt Hanning, eine "neue Migrationskrise".

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