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UN-Sonderberichterstatter zum Thema Folter: Nils Melzer.

© imago images/Christian Spicker

Update

Schweden lehnt Kommentar ab: Wie UN-Experte Melzer Wikileaks-Gründer Assange entlastet

Manipulierte Beweise, konstruierte Vorwürfe gegen Julian Assange: Der UN-Experte Melzer gibt neue Einblicke in den Fall – und belastet Schweden.

Unterstützung für den in Großbritannien inhaftierten Julian Assange: Nachdem gerade ein UN-Experte den Wikileaks-Gründer entlastet und schwere Vorwürfe wegen dessen Verhaftung erhoben hat, organisiert sich nun breiter Protest. Mehr als 130 Persönlichkeiten aus Politik und Kultur haben einen Aufruf für die Freilassung Assanges unterzeichnet.

Die USA wollen Julian Assange wegen Spionage den Prozess machen

"Wir unterstützen die Forderung des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen zum Thema Folter, Nils Melzer, nach einer umgehenden Freilassung von Julian Assange, aus medizinischen sowie aus rechtsstaatlichen Gründen", heißt es in dem Aufruf, der ganzseitig in der Donnerstagsausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschienen ist. Man sei in großer Sorge um das Leben Assanges, der sich in einem kritischen Gesundheitszustand befinde.

Assange sitzt im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in Auslieferungshaft. Die USA wollen ihm wegen Spionage den Prozess machen. Wegen der Enthüllung von Kriegsverbrechen werde Assange dort mit 175 Jahren Einzelhaft bedroht, stellen die Unterzeichner des Aufrufs fest. Die USA werfen ihm vor, der Whistleblowerin Chelsea Manning geholfen zu haben, geheimes Material über US-Militäreinsätze zu veröffentlichen.

Der Beginn des Auslieferungsverfahrens ist für Ende Februar vorgesehen. Assange war im April 2019 in London verhaftet worden und sitzt in Großbritannien eine fast einjährige Gefängnisstrafe wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen ab.

Zuvor hatte er sich sieben Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft in London verschanzt, um einer Auslieferung nach Schweden wegen Vergewaltigungsvorwürfen aus dem Jahr 2010 zu entgehen. Die schwedische Justiz hat die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange im November 2019 fallengelassen.

UN-Sonderermittler Melzer erhebt schwere Vorwürfe

UN-Sonderermittler Melzer hatte im Interview mit dem Schweizer Magazin "Republik" erstmals Details seiner Erkenntnisse über die Vorverurteilung und Verhaftung Assanges publik gemacht. Er kommt zum Schluss: "Vier demokratische Staaten schließen sich zusammen, USA, Ecuador, Schweden und Großbritannien, um mit ihrer geballten Macht aus einem Mann ein Monster zu machen, damit man ihn nachher auf dem Scheiterhaufen verbrennen kann." Es handle sich um einen "Riesenskandal und die Bankrotterklärung der westlichen Rechtsstaatlichkeit". Melzer hatte seine Vorwürfe am Mittwochabend auch im ZDF geäußert.

Der Schweizer Rechtswissenschaftler Melzer spricht in dem Interview von konstruierten Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden, manipulierten Beweisen und befangenen Richtern. In der Causa Assange sei ein "mörderisches System" am Werk, um mit einem Schauprozess an dem Wikileaks-Gründer ein Exempel zu statuieren und andere Journalisten einzuschüchtern.

Was sich in Schweden im Rahmen einer strafrechtlichen Voruntersuchung binnen weniger Wochen an Rechtsbrüchen akkumuliert habe, sei "absolut grotesk", sagte Melzer dem Schweizer Magazin. Die Briten, namentlich der Crown Prosecution Service, hätte Schweden zugleich "unbedingt davon abhalten" wollen, das Verfahren einzustellen.

Assange wollte in Schweden aussagen, so Melzer

Er habe noch nie einen vergleichbaren Fall gesehen, sagte Melzer. Jeder könne gegen jeden eine Voruntersuchung auslösen, indem er zur Polizei gehe und jemanden beschuldige: "Die schwedischen Behörden wiederum waren an der Aussage von Assange nie interessiert. Sie ließen ihn gezielt ständig in der Schwebe. Stelle Sie sich vor, Sie werden neuneinhalb Jahre lang von einem ganzen Staatsapparat und von den Medien mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert, können sich aber nicht verteidigen, weil es gar nie zur Anklage kommt."

Julian Assange am 13. Januar nach einem Gerichtstermin in London.
Julian Assange am 13. Januar nach einem Gerichtstermin in London.

© Henry Nicholls/Reuters

Zu den Vorwürfen aus Schweden, Assange sei vor der Justiz geflüchtet, sagt Melzer: "Das Gegenteil ist der Fall. Assange hat sich mehrfach bei den schwedischen Behörden gemeldet, weil er zu den Vorwürfen Stellung nehmen wollte. Die Behörden wiegelten ab."

Da er fließend Schwedisch spreche, habe er alle Originaldokumente lesen können: Melzer sagt: "Ich traute meinen Augen nicht: Nach Aussagen der betroffenen Frau selber hat es nie eine Vergewaltigung gegeben." Doch die Faktenlage sei noch schlimmer, so der UN-Experte weiter. "Die Aussage dieser Frau wurde im Nachhinein ohne ihre Mitwirkung von der Stockholmer Polizei umgeschrieben, um irgendwie einen Vergewaltigungsverdacht herbeibiegen zu können. Mir liegen die Dokumente alle vor, die Mails, die SMS."

Melzer verweist auf den Zeitpunkt der Leaks

In dem Interview mit dem Magazin beschreibt Melzer ausführlich, was es auch mit den angeblichen Vergewaltigungs- und Belästigungsvorwürfen einer zweiten Frau gegen Assange auf sich habe. Die Aussage sei von der schwedischen Polizei ohne Mitwirkung der Frau redigiert worden und sei auch von ihr nicht unterschrieben. "Es ist ein manipuliertes Beweismittel, aus dem die schwedischen Behörden dann eine Vergewaltigung konstruiert haben."

Zu den Motiven Schwedens sagt der UN-Sonderberichterstatter, man müsse sich den Zeitpunkt anschauen. Ende Juli 2010 habe Wikileaks in Zusammenarbeit mit der "New York Times", dem "Guardian" und dem "Spiegel" das sogenannte "Afghan War Diary" veröffentlicht. "Es ist eines der größten Leaks in der Geschichte des US-Militärs. Die USA fordern ihre Alliierten umgehend dazu auf, Assange mit Strafverfahren zu überziehen (...)."

Nach Angaben der schwedischen Tageszeitung "Dagens Nyheter", die am Samstag online über den Appell in Deutschland und die Vorwürfe Melzers gegen Schweden berichtete, wollten sich weder Justizminister Morgan Johansson noch die Staatsanwaltschaft äußern.

"Ständig passieren in diesem Fall Dinge, die eigentlich gar nicht möglich sind"

Weiter sagt Melzer in dem Interview: "Ständig passieren in diesem Fall Dinge, die eigentlich gar nicht möglich sind, außer man ändert den Betrachtungswinkel." Stein des Anstoßes sei gewesen, dass Wikileaks "die politischen Eliten in den USA, England, Frankreich und Russland gleichermaßen" bedroht habe. Über die Plattform seien permanent geheime staatliche Informationen geleakt worden, und das in einer Welt, in der auch in sogenannten "reifen Demokratien die Geheimhaltung überhandgenommen hat" und dieser Schritt "als fundamentale Bedrohung wahrgenommen" werde.

Weiter sagte Melzer: "Assange hat deutlich gemacht, dass es den Staaten heute nicht mehr um legitime Vertraulichkeit geht, sondern um die Unterdrückung wichtiger Informationen zu Korruption und Verbrechen." Dazu führt Melzer auch den Leak des Videos "Collateral Murder" von Manning an – ein Video des US-Militärs, das zeigt, wie amerikanische Soldaten in Bagdad mehrere Menschen töten. "Als langjähriger IKRK-Rechtsberater und Delegierter in Kriegsgebieten kann ich Ihnen sagen: Es handelt sich dabei zweifellos um ein Kriegsverbrechen", sagt Melzer dazu.

Julian Assange zeige "alle Symptome langdauernder psychischer Folter"

Der am Donnerstag erschiene Appell der Prominenten zitiert ebenfalls aus Melzers Bericht, Assange zeige "alle Symptome, welche typisch sind für Opfer langdauernder psychischer Folter". Melzer hatte den inhaftierten Australier im Mai 2019 mit einem Ärzteteam besucht.

Ohne jeden stichhaltigen Grund müsse Assange 22 bis 23 Stunden alleine in seiner Zelle verbringen, heißt es weiter. Unter diesen Umständen könne er nicht genesen. Zudem werde seine Vorbereitung auf das am 24. Februar beginnende Auslieferungsverfahren systematisch unterbunden.

Beides stelle "schwere Verstöße gegen menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundprinzipien dar", kritisieren die Unterzeichner. Sie rufen Großbritannien dazu auf, Assange umgehend freizulassen und appellieren an die Bundesregierung, sich in diesem Sinne bei der britischen Regierung einzusetzen.

Bundesregierung hat keine Probleme mit Haftbedingungen von Julian Assange

Zu den Unterzeichnern des Appells gehören unter anderen die ehemaligen Bundesministerinnen und -minister Katarina Barley, Sigmar Gabriel, Herta Däubler-Gmelin, Heidemarie Wieczorek-Zeul (alle SPD), Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (beide FDP). Ferner haben sich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sowie Bundestagsabgeordnete wie Gregor Gysi (Linke) und Karl Lauterbach (SPD) dem Aufruf angeschlossen.

Außerdem die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jellinek, die Schriftsteller Navid Kermani und Martin Mosebach, der Journalist Günter Wallraff, aber auch Benediktinerpater und Autor Anselm Grün sowie viele weitere Persönlichkeiten aus Kabarett, Theater und Film und das PEN-Zentrum Deutschland.

Die Bundesregierung hat keine Bedenken wegen der Haftbedingungen von Assange in Großbritannien. "Aus Sicht der Bundesregierung besteht kein Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der britischen Justiz", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Mittwoch in Berlin. Man sei überzeugt, dass sich im britischen Rechtsstaat grundsätzlich jeder zur Wehr setzen könne, der seine Rechte durch staatliches Handeln verletzt sehe.

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