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Viele Einwohner Idlibs versuchen, sich mit ihrem wenigen Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Hunderttausende sind unterwegs.

© Anas Alkharboutli/dpa

Schutzlos im Syrienkrieg: In Idlib bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an

Fast 600.000 Menschen sind in der Provinz auf der Flucht. Ein Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht – die Türkei schickt Soldaten, um Assads Truppen aufzuhalten.

In der syrischen Provinz Idlib bahnt sich eine der schlimmsten humanitären Katastrophen im gesamten Syrien-Krieg an. Allein seit Dezember sind UN-Schätzungen zufolge fast 600.000 Menschen – die Hälfte davon Kinder – vor der anrückenden syrischen Armee geflohen. In Idlib, der letzten Rebellenbastion in Syrien, gebe es keine sicheren Gebiete mehr, warnen die UN.

Bei Temperaturen von minus sechs Grad haben viele kein festes Dach über dem Kopf und müssen in Zelten oder Autos ausharren. Die Armee des Machthabers Baschar al Assad steht bereits wenige Kilometer vor der Provinzhauptstadt Idlib. Zugleich schickt die türkische Armee immer mehr Soldaten in die Provinz, um die syrischen Einheiten aufzuhalten und eine Massenflucht in die Türkei zu verhindern.

Idlib ist das letzte Gebiet Syriens, das noch von regierungsfeindlichen Milizen regiert wird. Präsident Assad hatte im vergangenen April eine Offensive gestartet, um das Gebiet nach Jahren der Rebellenherrschaft zurückzuerobern. Eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Assads Schutzmacht Russland und der Türkei zerbrach an den Kämpfen. Damaskus und Moskau begründen den Vormarsch mit Angriffen und Anschlägen der dschihadistischen Miliz HTS, die große Teile von Idlib kontrolliert.

Assads Offensive gewinnt seit Dezember mit Unterstützung durch russische Luftangriffe an Fahrt. Die UN und andere Beobachter werfen Syrern und Russen vor, dabei die zivile Infrastruktur zu zerstören. Märkte, Krankenhäuser und Schulen werden bombardiert. Fast alle der 370 seit Dezember getöteten Zivilisten in Idlib seien bei Regierungsangriffen auf das Oppositionsgebiet gestorben, berichtete der UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock vor einigen Tagen dem Sicherheitsrat in New York.

Viele sind vor Assads Herrschaft geflohen

Ein Umzug in die von Assad kontrollierten Gebiete Syriens kommt für die meisten Zivilisten nicht in Frage. Viele waren in den vergangenen Jahren vor Assads Gewaltherrschaft nach Idlib geflohen. Der Vormarsch treibt deshalb immer mehr Menschen in den verbliebenen Rebellen-Gebieten zusammen. Besonders an der geschlossenen türkischen Grenze im Nordwesten der Provinz sammeln sich die Flüchtlinge. In Idlib brauchen drei Millionen Menschen dringend Hilfe.

Schon bald könnten noch mehr Bedürftige hinzukommen. In der Provinzhauptstadt Idlib, die vor dem Kriegsausbruch vor neun Jahren etwa 170.000 Einwohner hatte, drängen sich heute mehr als eine Million Menschen. Wenn sie sich zur Grenze auf den Weg machen, wird die Lage dort noch dramatischer. Inzwischen haben sich den UN zufolge rund 140.000 Schutzsuchende aus Idlib in das türkisch besetzte Gebiet um die Stadt Afrin im Norden Syriens aufgemacht.

Notwendig sei ein sofortiges Ende der Kämpfe, sagte Lowcock im Sicherheitsrat. Derzeit sieht es allerdings eher nach noch mehr Krieg aus. Die türkische Armee hat nach einer Zählung der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seit Anfang Februar mindestens 5000 Soldaten und rund 1250 Militärfahrzeuge, darunter auch Kampfpanzer, nach Idlib verlegt. Sie sollen Baschar al Assads Vormarsch stoppen.

Russland steigert Einfluss

Bisher kann sich die Türkei mit der Forderung nach einem Ende der syrischen Offensive aber nicht durchsetzen. Moskau will Ankara offenbar hinhalten. Denn Russland will ebenso wie Assad die Rebellenherrschaft in Idlib beenden: Moskau möchte besonders die Tschetschenen und Usbeken unter den dschihadistischen Kämpfern in dem Gebiet an einer Rückkehr in die Heimat hindern. Zwar könnte eine Waffenruhe zwischen der Türkei und Syrien in Idlib unter Vermittlung Russlands vorübergehend für Ruhe sorgen, doch eine langfristige Lösung sei nicht in Sicht, sagt Orhan Gafarli von der türkischen Denkfabrik Ankara Policy Center.

Seit Jahren arbeiten die Türkei und Russland trotz gegensätzlicher Interessen in Syrien eng zusammen.
Seit Jahren arbeiten die Türkei und Russland trotz gegensätzlicher Interessen in Syrien eng zusammen.

© imago images/ITAR-TASS

Seit Jahren arbeiten die Türkei und Russland trotz gegensätzlicher Interessen in Syrien eng zusammen. Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützt Rebellengruppen, die gegen Assad kämpfen, während Wladimir Putin den syrischen Präsidenten unterstützt. Bisher haben Erdogan und Putin ihre Differenzen in den Hintergrund rücken können. Das nützte beiden Seiten. Ankara erhielt grünes Licht aus Moskau für mehrere Militärinterventionen in Syrien zur Bekämpfung kurdischer Milizionäre. Und Russland bekam dadurch großen Einfluss auf das Nato-Mitglied Türkei.

Differenzen zwischen Ankara und Moskau

In Idlib können Ankara und Moskau ihre Differenzen jedoch nicht ausblenden, weil wichtige Interessen der Türken direkt mit denen von Syrern und Russen kollidieren: Assad will Idlib zurückerobern, und Erdogan will das verhindern. Ohne eine Grundsatzeinigung sei es selbst im Fall einer Waffenruhe nur eine Frage der Zeit, bis neue Gefechte ausbrechen, sagt Gafarli.

Erdogan und Putin könnten versuchen, ihr gutes persönliches Verhältnis zu nutzen, um einen Ausweg zu finden. Doch Gönül Tol, Türkei-Expertin am NahostInstitut in Washington, vermutet, dass Erdogan viel zu sehr auf seine Freundschaft mit Putin setzt. Für Russland sei die Türkei lange ein wichtiger Partner gewesen, um ein Gegengewicht gegen die US-Präsenz in Syrien zu schaffen. Nach dem Beginn des US-Abzuges habe Russland nun jedoch keinen Grund mehr, auf die Türkei groß Rücksicht zu nehmen.

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