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Schüler in Rheinland-Pfalz mit Tablet-Computer

© dpa/Andreas Arnold

Schule und Digitalisierung: Wie Schulen sich für die digitale Zukunft ändern müssen

Digitales Verständnis und Umgang mit neuen Medien sind Zukunftskompetenzen, die an der Schule kaum vorkommen. Was passieren muss, damit sich das ändert. Ein Essay.

Ein Essay von Ruth Ciesinger

Eine Heimstatt des Analogen sind sie, die deutschen Klassenzimmer. Orte, an denen Kreide über grüne Tafeln kratzt und PCs im Computerlabor vor sich hinstauben. Wo vor dem Suchtpotenzial des Internet und von Social Media gewarnt wird, statt sich mit Algorithmen oder Blockchain zu beschäftigen. Keine Orte, an denen Kinder und Jugendliche auf ein selbstbestimmtes Leben in einer durchdigitalisierten Welt vorbereitet werden. Doch wie sollen sie diese Welt später gestalten, wenn sie deren Prozesse und Abläufe nicht verstehen?

Soweit, so polemisch, so ungerecht. Natürlich gibt es die hochmotivierten Lehrkräfte, die keine Scheu vor neuen Medien haben; es gibt die Pilotschulen, die ganzheitliche Lehrmodelle entwickeln und umsetzen. Und die Kultusministerkonferenz sendet mit ihrer Strategie "Bildung in der digitalen Welt" das Signal: Problem erkannt, wir wollen die Lage verbessern. Ebenso wie der Digitalpakt, den die Bundesregierung 2016 angekündigt hat. Nur, reicht das?

"Grundsätzlich", findet Steffen Haschler, "sind wir in der Schule in vielen Bereichen abgehängt." Der 38-Jährige unterrichtet Mathe, Physik und Informatik an einem Heidelberger Gymnasium, engagiert sich bei "Chaos macht Schule" des Chaos Computer Clubs, bildet andere Lehrer fort. Für ihn hakt es besonders an der Infrastruktur sowie der Aus- und Weiterbildung der Lehrer. Denn wenn an der Schule nicht einmal das W-Lan funktioniert - Berliner Lehrer kennen das - sinkt proportional die Begeisterung, sich im Unterricht auf die Technik einzulassen und zu verlassen.

Meist ist eine einzige Lehrkraft zuständig für die Schul-IT. Überstunden sind programmiert, wenn die Geräte so funktionieren sollen, dass die Kollegen damit arbeiten können. Weil aber auch der eigene Unterricht vorbereitet werden muss, und Themen wie Inklusion oder Integration Zeit und Engagement fordern, bleibt der Computerraum schon mal länger geschlossen.

Die "Pseudodigitalisierung" der Klassenzimmer

Ein weiteres Phänomen bezeichnet der Berliner Landesschulsprecher Philipp Mensah als "Pseudodigitalisierung". Wenn zwar in den Klassenzimmern moderne Smartboards hängen, die aber nicht anders genutzt werden als klassische Tafel, statt damit weiterführende Programme zur Unterrichtsgestaltung auszuprobieren. Tatsächlich sind viele Lehrer ganz nachvollziehbar überfordert, weil die Geräte oft ohne gute Schulung und Wartung eingeführt worden sind.

Dabei fordert beispielsweise der Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg, Medienbildung fachübergreifend zu fördern. Trotzdem kann es an Grundschulen passieren, dass die Kinder kaum mit Lehrprogrammen, elektronischen Medien oder dem Internet in Kontakt kommen. Einfach deswegen, weil die Klassenlehrer selbst keinen Zugang zur Materie haben.

Solche Erfahrungen hat 2013 auf wissenschaftlicher Ebene die ICILS-Studie (International Computer and Information Literacy Study) bestätigt. Im internationalen Vergleich sind deutsche Lehrer deutlich zurückhaltender als ihre Kollegen beim Einsatz elektronischer Lehrmittel. Dass sich hierzulande Digitalisierung jahrelang mühsam dahingeschleppt hat, liegt nicht nur an nicht funktionierender Infrastruktur, sondern auch an einer Skepsis gegenüber der "neuen Technik", die im deutschen Lehrkörper tiefer sitzt als anderswo.

Der Wissenschaftler Ralf Biermann hat sich diesen "medialen Habitus von Lehramtsstudierenden" vorgenommen. An deutschen Schulen, hat er herausgefunden, hatten es auch vor der Digitalisierung Neuheiten wie neue Medien nie leicht, wenn sie neu im Unterricht eingesetzt werden sollten. Deutsche Lehrer, so Biermann, waren in der Gesellschaft stets "unter den ersten, die auf die negativen Entwicklungen" hinwiesen.

Argumente gegen Veränderung? Nichts leichter als das.

Vielleicht findet sich ein Grund dafür im Berufsbild, aufgrund dessen jemand beschließt, Lehrer zu werden. Laut Biermann steht für die meisten künftigen Lehrer an erster Stelle der Wunsch, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Dann folgt das Interesse am eigenen Fachgebiet. Aus der eigenen Schulzeit existiert ein klares, analog geprägtes Bild des Lehreralltags, grundlegende Veränderungen sind eher nicht erwünscht. Gerade der Einsatz neuer Techniken aber kann die Unterrichtsgestaltung, die Rolle des Lehrers komplett verändern. Oft kennen sich Schüler mit Geräten, Arbeitsprogrammen oder Apps viel besser aus. Diese Situation ist konträr zur klassischen Lehrerrolle; die Möglichkeit, technisch vor den Schülern zu scheitern, schreckt ab.

Aber auch von wissenschaftlicher Seite wurde die Skepsis gegenüber "dem Digitalen" geschürt. Besonders durchdringend dröhnte der Psychiater Manfred Spitzer, der mit seinen Warnungen von der "Digitalen Demenz" so ziemlich jedes Vorurteil bestätigt hat. Spitzers Thesen sind furchterregend. Die Auseinandersetzung mit digitalen Medien macht erst süchtig und dann dumm. Wer zu viel online ist, dessen Gedächtnis lässt nach, Nervenzellen sterben ab - und nachwachsende Zellen gleich wieder, da sie nicht genutzt werden. Denn jede kognitive Tätigkeit, so die Annahme, wird nicht mehr selbst, sondern von Smartphones, Suchmaschinen und Navigationsgeräten erledigt. Die Folgen gerade für Kinder laut Spitzer: Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht und Gewaltbereitschaft.

Mit anderen Worten: Wer Argumente gegen Veränderung suchte, ist in der deutschen Debatte leicht fündig geworden. Doch die Diskussion wandelt sich. In einer Zeit, in denen Feldversuche mit fahrerlosen Autos und Sprachassistenten wie Alexa niemanden mehr elektrisieren, kann keiner bestreiten: Die Digitalisierung bleibt und beeinflusst unser Leben bis ins kleinste Detail. Und wer Kindern und Jugendlichen kein Rüstzeug für diese Welt vermittelt, ist auf dem Holzweg; gut, wenn das Thema nun angepackt und weniger verteufelt wird.

Ein Drittel der 14-Jährigen kann nicht mehr als Klicken

Die Schulpädagogin Birgit Eickelmann koordiniert für Deutschland die neue Vergleichsstudie ICILS 2018 und ist Mitherausgeberin des "Länderindikators 2017". Anhand ihrer Daten sieht sie seit 2013 einen Trend zu mehr Offenheit. So nimmt die Bereitschaft der Lehrer zu, digitale Medien im Unterricht einzusetzen, die Bundesländer leisten deutlich mehr Anstrengungen im weiten Feld der schulischen digitalen Bildung. Und zwar, so die Paderborner Professorin, "unabhängig vom Wechsel einer Landesregierung".

Das ist dringend nötig: Ein Drittel der 14-Jährigen werden laut ICILS digital zurückgelassen, sie können, so Eickelmann "nicht mehr als Klicken". Ob eine Quelle seriös ist, welche Datenspuren das Surfen im Netz hinterlässt, was Whatsapp alles über einen weiß und was das Unternehmen mit den hinterlassenen Daten anfängt - davon haben diese Jugendlichen keine Vorstellung. Ähnliches gilt für die Anwendung von Arbeitsprogrammen, ganz zu schweigen vom Verständnis technischer Abläufe.

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Die Kinder aus bildungsfernen Familien werden auch beim digitalen Wissen abgehängt, Jungen häufiger als Mädchen. Für sie gibt es keine Förderprogramme. Das Gleiche gilt für besonders Begabte. Auch sie haben im deutschen System bisher keine Möglichkeiten, ihre besonderen digitalen Fähigkeiten an der Schule zu fördern.

Dabei kann man sehr früh damit anfangen. Was Pädagogen als "Medienkritikfähigkeit" und "Reflexionsfähigkeit" bezeichnen, beginnt bei den Jüngsten. Anders gesagt, die Grundschüler werden digital wie analog an den Unterrichtsstoff herangeführt. Sie arbeiten mit der Lern-App, genauso wie mit Buch und Bleistift. Denn selbst wenn Zweitklässler mit eigenem Smartphone in die Schule kommen, können sie zwar Minecraft spielen und "Die Lochis" auf Youtube anschauen, oft fehlt aber das Gespräch darüber, was aus dem folgt, was sie da auf ihren Geräten machen. Die Schule kann so ein Verständnis fördern. Zum Beispiel, wenn Schüler mit offenen Apps kurze Filme oder Präsentationen produzieren, und dazu Texte und Bilder verwenden. Da kann auch bei den Kleinen sogar das Urheberrecht schon eine Rolle spielen.

In der Lehrerausbildung muss Digitalisierung eine viel größere Rolle spielen

Ältere Schüler interessieren sich oft fürs Hacken und wollen selbst programmieren. Natürlich kann nicht jeder Lehrer zum Grundkurs Informatik verpflichtet werden. Tatsächlich aber krankt die Lehrerausbildung an ähnlichen Problemen wie die Schule: Ob und wie Medienbildung im weitesten Sinne eine Rolle spielt, hängt vom einzelnen Dozenten und der jeweiligen Studienordnung ab. Gerade hier braucht es eine sehr viel stärkere Verpflichtung.

Doch was nutzt die höchstmotivierte Pädagogin, wenn die Infrastruktur fehlt? Kleine Klassensätze an Tablets, mit denen die Kinder zu mehreren arbeiten, und deren Apps ohne W-Lan funktionieren, wären ein Ansatz. Auch ist der als "so 90er" belächelte Computerraum besser als sein Ruf; schließlich soll auch gelernt werden, auf einer Tastatur zu schreiben, Dateien zu speichern und mit Arbeitsprogrammen umzugehen.

Aber selbst dafür reicht es nicht überall. Für die technische Infrastruktur sind die Kommunen zuständig. Eine reiche Kommune bedeutet eine gut ausgestattete Schule, eine arme Kommune bedeutet Pech gehabt. Der finanzielle Nachholbedarf ist enorm, und deshalb wäre der angekündigte Digitalpakt so wichtig - eigentlich. Denn da stellen sich jetzt wieder neue Fragen. Ursprünglich war die Hoffnung, Olaf Scholz als neuer Bundesfinanzminister würde rasch die geplanten fünf Milliarden Euro für die technische Ausstattung an den Schulen freigeben. Doch wie jetzt eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zeigt, sollen aus dem Digitalpakt zum Beispiel keine Endgeräte für Schüler finanziert werden, sie sollen ihre eigenen Tablets mitbringen. Das letzte Wort dürfte hier noch nicht gesprochen sein.

Schule darf auch auf externe Experten vertrauen

Schule darf aber auch nicht alleinverantwortlich für die digitale Bildung der Kinder und Jugendlichen sein. Dass viele Eltern mit erstaunlicher Sorglosigkeit die Kinder mit ihren Smartphones und Tablets sich selbst überlassen und keine digitalen Leitplanken mitgeben können, ist frustrierend, aber Fakt. Umso wichtiger ist deshalb für die Schule künftig die Zusammenarbeit mit willigen Eltern, mit Ehrenamtlichen, mit Experten, mit Stiftungen und der Wirtschaft.

Wie die Geschäftsmodelle sozialer Netzwerke funktionieren, wie genau Algorithmen das Leben beeinflussen - wenn ein Lehrer solche Fragen nicht im Detail kennt, kann er sich Experten in den Unterricht einladen. Initiativen wie die "Jungen Tüftler" in Berlin veranstalten an Schulen Projekttage zu Programmierung und Elektronik und zeigen den Umgang mit Open Source Programmiertools. Wichtig ist, dass entsprechendes Wissen verbindlich wird, für die Vermittlung kann man sich Unterstützung holen.

Die Zeit des allwissenden Gatekeepers ist vorbei

Der Mini-Computer Calliope ist ein weiteres Beispiel, wie externes Wissen Schulen unterstützt. Grundschülern soll der Calliope helfen, simple Programmiergrundlagen zu lernen. Jedoch zeigt er auch, mit welchen Sorgen zu rechnen ist. Das Mini-Computer-Projekt wird von einer gemeinnützigen GmbH weiterentwickelt, aber unter anderem von Google unterstützt. Sofort gab es Bedenken, der Konzern könne nun die deutschen Lehrpläne zu seinen Gunsten beeinflussen.

Wohin dieses Ineinandergreifen führen kann, zeigt Jonas Wanke. Der 17-Jährige macht im Sommer Abitur am Berliner Heinrich-Hertz-Gymnasium. In der 6. Klasse hat er an der Schule erste Programmiererfahrungen gemacht. Jetzt macht er bei "Jugend forscht" mit und gründet seine eigene Firma, bei der es um per App gesteuertes, leuchtendes Hundegeschirr geht. Zugleich nimmt sein Gymnasium in einem Pilotprojekt an der Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts (HPI) in Potsdam teil. Dort hat Jonas im Sommer erst ein Praktikum gemacht, inzwischen programmiert er selbst an der Android-App für die Schul-Cloud.

Die Schul-Cloud ist ein weiterer Schritt, den Unterricht weiterzuentwickeln und Schülern wie Lehrern mehr Möglichkeiten zum individuellen Lernen und Arbeiten in heterogenen Gruppen zu bieten. Verschiedene Bundesländer arbeiten an Modellen, wie Unterrichtsmaterial webbasiert zur Verfügung gestellt, bearbeitet und gespeichert werden kann. Das Interesse ist groß: Allein an der Schul-Cloud des HPI werden sich bald 300 Schulen beteiligen.

"Viele spüren es ja", sagt der Heidelberger Steffen Haschler. "Die Zeit des allwissenden Gatekeepers ist vorbei." Und wer einen Blick ins Lernlabor des Informatikprofessors Andreas Dengel in Kaiserslautern wirft, kann verstehen, wenn sich Lehrer fragen, ob hier der "elektronische Lernassistent" künftig den Lehrer ersetzen soll. Denn dort geht es wirklich um die Digitalisierung der Schule. Im Klassenzimmer der Zukunft erkennen dann Sensoren, ob der Schüler aufmerksam ist, den Stoff versteht und welche neuen Aufgaben oder Hilfestellungen das digitale Schulbuch dem jeweiligen Kind stellen soll.

Dengel sagt dazu: "Es wird andere Lehrer geben." Und das ist der Kern von Digitalisierung. Strukturen verändern sich und werden auf den Kopf gestellt, Altes wird in Frage gestellt, Neues kommt dazu. Wer sich darauf einlässt, kann etwas Gutes daraus machen. Und ganz sicher die Schule.

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