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Ihre Entscheidung: Angela Merkel gibt bekannt, dass die Regierung die deutsche Justiz ermächtigt, gegen Jan Böhmermann zu ermitteln

© Gregor Fischer/dpa

Satire-Affäre: Böhmermann, Erdogan, Merkel und die Folgen

Die Regierung erlaubt Ermittlungen gegen Jan Böhmermann, ist sich aber alles andere als einig über diese Entscheidung. Hier die wichtigsten Fragen.

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Entscheidungen der Bundesregierung verkündet gemeinhin der Regierungssprecher, aber diesmal muss die Chefin selbst ran. Der Fall Jan Böhmermann hatte sich für Angela Merkel zum Sprengsatz entwickelt, der ihr um die Ohren zu fliegen drohte, egal wie sie entscheidet. Tagelang berät die Regierung, am Freitagmittag gibt die Kanzlerin bekannt: Die Bundesregierung erlaubt der deutschen Justiz, ein Ermittlungsverfahren gegen den ZDF-Satiriker wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einzuleiten, gestützt auf den Paragrafen 103 des Strafgesetzbuchs. Und: Dieser Paragraf soll danach abgeschafft werden.

Wie ist die Entscheidung entstanden?

Merkel hat gegen die SPD entschieden. Das hat es in dieser Koalition noch nie gegeben und in anderen nur sehr, sehr selten. Der Dissens in der Regierung bestand, seit die Botschaft der Türkei in einer „Verbalnote“ an das Auswärtige Amt verlangte, Böhmermann für sein Schmähgedicht auf Erdogan verfolgen zu lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Justizminister Heiko Maas, beide SPD, fanden die Forderung unverhältnismäßig. Steinmeier ließ offen durchblicken, dass er den Satire-Schmäh nicht als Fall für die Justiz betrachte. Die CDU- Seite – Innenminister Thomas de Maizière und Merkels Kanzleramt – kam zu anderen Schlussfolgerungen. Merkel erklärte: Im Rechtsstaat sei es nicht Sache der Regierung, zwischen Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit abzuwägen, sondern Sache von Staatsanwälten und Gerichten. „Weil wir von der Stärke des Rechtstaats überzeugt sind“, lege sie die Entscheidung in der Sache in die Hände der Justiz. Doch Merkel legte zugleich offen, dass diese Entscheidung im Streit fiel: „Es gab unterschiedliche Auffassungen zwischen den Koalitionspartnern.“

Was ist da passiert?

Tatsächlich kam es zur Abstimmung und zum Patt: Die beiden SPD-Ministerien dagegen, Kanzleramt und de Maizière dafür. Bei Stimmengleichheit, sagt die Geschäftsordnung der Bundesregierung in Paragraf 24, entscheidet das Votum des Vorsitzenden. „Merkel hat da eine Art Richtlinienkompetenz ausgeübt“, urteilt ein Rechtskundiger aus dem Regierungsapparat. In der SPD-Spitze mögen sie das Wort nicht hören: Richtlinienkompetenz würde bedeuten, dass die Kanzlerin unter Bezug auf einen konkreten Grundgesetzartikel einen Minister anweist, auch gegen seine Überzeugung zu handeln; hier sei bloß eine normale Entscheidung nach Geschäftsordnung gefallen.

Der Unterschied ist den Sozialdemokraten wichtig: Sie wollen deutlich machen, dass sie nicht eingeknickt sind. Aber sie wollen auch nicht als Koalitionsteil erscheinen, auf dessen Meinungen es gar nicht mehr ankommt. Folgerichtig gingen SPD-Spitzenpolitiker selbst an die Öffentlichkeit. Kurz nach Merkel trat Fraktionschef Thomas Oppermann vor die Kameras. Die Entscheidung der Kanzlerin sei falsch, die zuständigen SPD-Minister hätten dagegen gestimmt und könnten auf die „volle Unterstützung“ der Fraktion bauen.

Dann folgten Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Justizminister Heiko Maas: Der Außenminister gab zu, dass es für beide Alternativen „gute Gründe“ gegeben habe, die SPD-Minister hätten „nach sorgfältiger Abwägung“ gegen die Erteilung der Ermächtigung gestimmt. Die „heftige Debatte über die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit und ihre Grenzen“ sei „wichtig“, aber im Spannungsfeld zwischen Satire und der Ehre einzelner Personen sei „in besonderem Maße die Zurückhaltung der Bundesregierung geboten“. Eine juristische Prüfung werde durch Erdogans separaten Strafantrag „ohnehin erfolgen“, der „sein gutes Recht" sei. Der Justizminister, der gewöhnlich wegen Einzelfällen keine Gesetze ändern oder streichen will, nannte den Artikel 103 eine Sonderregelung, die „aus der Zeit gefallen“ sei und abgeschafft gehöre.

Ist die Erlaubnis überraschend?

Die Türkei ist ein Partnerstaat der Bundesrepublik. In solchen Fälle entspricht es der Staatspraxis, das Verfahren zu genehmigen. 2007 wurde auch einem Strafverlangen der Bundespräsidentin der Schweiz zugestimmt. Böhmermanns Anwalt reagierte dennoch mit „erheblichem Unverständnis“ auf die Entscheidung der Regierung. „Diese Verfolgungsermächtigung war völlig überflüssig und ohne Not“, kritisierte Christian Schertz.

Ist die Erlaubnis eine Vorentscheidung für das Strafverfahren?

Nein. Das Strafverlangen der Türkei und die jetzt erteilte Verfolgungsermächtigung sind Prozessvoraussetzungen. Inhaltlich hat die Regierung den Fall nicht beurteilt. Die Staatsanwaltschaft kann nun weiter ermitteln. Viel Neues ist aber nicht zu erwarten, da die Ankläger der Regierung bereits einen bewertenden Bericht geschickt haben, der unter Verschluss gehalten wird. Bestätigt sich der Tatverdacht, kann das Verfahren immer noch gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt werden. Böhmermann müsste damit einverstanden sein – doch oft wird dies öffentlich als Schuldeingeständnis gedeutet.

Was passiert, wenn Paragraf 103 gestrichen wird und es bis dahin kein rechtskräftiges Urteil gibt?

Dann würde das Verfahren hinsichtlich Paragraf 103 eingestellt. Es bleibt aber die von Erdogan angezeigte „normale“ Beleidigung nach Paragraf 185. Hier sind die Strafen milder. Insofern läuft die Zeit für Böhmermann. Entscheidet sich Erdogan, Strafverlangen und Strafantrag zurückzunehmen, ist es ebenfalls beendet.

Wann kommt es zur Anklage?

Laut Gesetz, wenn die „Ermittlungen genügenden Anlass“ bieten. Dann aber kommt die nächste Hürde: Das Gericht prüft, ob es die Anklage zulässt. Die Hauptverhandlung wird nur durchgeführt, wenn die Richter eine spätere Verurteilung für wahrscheinlich halten. Angesichts der schwierigen Wertungsfragen kann es sein, dass Staatsanwaltschaft und Gericht hier konträre Auffassungen vertreten. Bei Ablehnung der Anklage können die Ermittler noch Beschwerde erheben, sonst ist das Verfahren beendet.

Ist eine Verurteilung wahrscheinlich?

Vorhersagen verbieten sich. Die Rechtsprechung verfügt über Kategorien, um Satire strafrechtlich zu bewerten, darunter das Schlagwort „Schmähkritik“. Dennoch bleibt jeder Fall eine Einzelfall. Insgesamt sind die Gerichte großzügiger geworden und betonen den Wert der Meinungsfreiheit. Allerdings enthält Böhmermanns Satire auch Elemente, die darauf schließen lassen, dass er Erdogan persönlich verletzen wollte. Sollte er verurteilt werden, droht wohl nur eine Geldstrafe. Zudem bleiben Böhmermann noch Berufung und Revision, um das Urteil prüfen zu lassen. Schließlich ist auch noch eine Verfassungsbeschwerde denkbar.

Wie reagiert das ZDF?

Das ZDF hat die Zustimmung der Bundesregierung für ein gesondertes Strafverfahren gegen Jan Böhmermann als „politische Entscheidung“ bewertet: „Voraussetzung einer Strafbarkeit ist aber die Erfüllung des Beleidigungstatbestands. Dazu trifft die Entscheidung der Bundesregierung keinerlei Wertung. Das ist Aufgabe der Justiz.“ ZDF-Intendant Thomas Bellut sicherte dem Fernsehmoderator die volle rechtliche Unterstützung des Senders zu. „Wir gehen mit ihm durch alle Instanzen“, sagte Bellut dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Der öffentlich-rechtliche Sender stehe hinter dem Satiriker, er genieße im Rechtsstreit mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan den vollen Rechtsschutz des ZDF. Am Montag hatte das ZDF zudem erklärt, am Moderator und dem „Neo Magazin Royale“ festzuhalten. Dabei bleibe es. Am Sonnabend verkündete Böhmermann dann allerdings via Facebook, dass er eine "kleine Fernsehpause" einlegen wolle, damit sich Deutschland wieder auf andere Themen als seine Satire besinnen könne.

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Wie wird die Entscheidung in der Türkei aufgenommen?

Erdogan selbst äußerte sich zunächst nicht, doch seine Anhänger machten im Internet deutlich, dass Merkels Beschluss auch Konsequenzen für Kritiker des Präsidenten in der Türkei haben könnte. Forderungen der Opposition in Ankara, angesichts der Klagewelle Erdogans gegen seine Gegner den Straftatbestand der Präsidentenbeleidigung abzuschaffen, haben nun wohl erst recht keine Chance mehr. „Alle, die im Ausland über Pressefreiheit herumjaulen und in der Türkei die Präsidentenbeleidigung straffrei machen wollen, sollen sich das hinter die Ohren schreiben“, schrieb ein Erdogan-Fan auf Twitter.

Nur am Rande wurde die Kritik der Kanzlerin am türkischen Druck auf die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit vermerkt: Solche Stellungnahmen aus Europa sind die Türken gewohnt – ändern tut sich dadurch kaum etwas. Erst am Vortag hatte die Regierung den Bericht des EU-Parlaments zu den Zuständen in dem EU-Bewerberland als unannehmbar zurückgewiesen. Auch dass die Behörden am Donnerstag den Zugang zur Website der russischen Nachrichtenagentur Sputnik sperrten, wunderte die wenigsten.

Ist das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei beeinträchtigt?

Angela Merkel will bald in die Türkei kommen, um in der Stadt Kilis an der Grenze zu Syrien ein von der EU finanziertes Flüchtlingszentrum einzuweihen – das wurde kurz vor der Entscheidung der Bundesregierung zu Böhmermann bekannt. Kürzlich hatte Erdogan gedroht, den Flüchtlingsdeal mit der EU aufzukündigen, wenn Zusagen nicht eingehalten würden. Auch Russland und die islamischen Staaten hatte er scharf kritisiert. Erdogans „Neue Türkei“ sieht sich nicht als Teil des Westens, sondern als eigenes Modell eines modernen islamischen Staates. Hinter dem schroffen Umgang mit Partnern steht Erdogans Selbstsicht als Chef einer Führungsmacht – die in Europa ihre Vorstellungen von Meinungsfreiheit verfechten kann.

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