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Russlands Präsident Wladimir Putin.

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Russlands Präsident - und wie eine Russin ihn sieht: Von Wladimir Putin lernen

Wladimir Putin ist der Beweis dafür, dass nicht nur Frauen Bad Boys verfallen können, sondern ganze Völker. Geradlinigkeit, seelische Größe, Intellektualität sind in Russland keine Tugenden mehr. Ein Essay.

Es gibt ein russisches Lied, das mir sehr gefällt, es geht so: „Führe mich über den Maidan, durch das vertraute Menschengetümmel…“ Es ist das Lied eines ukrainischen Wandersängers, es handelt vom Berühmtwerden auf dem Maidan – und vom Sterben auf dem Maidan. Wenn Russen zusammenkommen, wird oft gesungen. Ich stimme dieses Lied gerne an, die anderen singen normalerweise mit. Seit einigen Monaten darf ich das Lied aber nicht mehr singen. Es gilt als unpatriotisch, fast als pietätlos. Der Text hat nichts mit der heutigen Ukraine zu tun, aber das Wörtchen Maidan reicht schon. Man besingt nun mal nicht die Symbole seiner Feinde. Selbst, wenn man – wie ich – schon sehr lange in Deutschland lebt.

Seit die Menschen in der Ukraine wieder auf die Straße gegangen sind, auf den Maidan, sind wir Feinde. Weil sie, die Ukrainer, nach Europa wollten, und wir, Russen, Verrat witterten. Sie sind uns fremdgegangen. Unsere Liebe war rau und herrschsüchtig – und jetzt tobt der Scheidungskrieg. Zwischen Russen und Ukrainern, die als unzertrennliche slawische Brüdervölker galten. Manch einer beteuert das noch, doch es klingt so wirksam wie die zehn Gebote. Wie kann es auch stimmen, wenn in Lemberg Toilettenpapier und Fußabtreter mit dem Bild des russischen Präsidenten als Souvenirs verkauft werden. Und wenn in Moskau Menschen verhaftet werden, die eine ukrainische Flagge an eine Brücke hängen. Selbst die Farben der Ukraine gelten als Zeichen des Widerstands: Hier und da werden in Moskau Gebäude, Strommasten und sogar der Stern auf einem der Zuckerbäckerbauten aus der Stalin-Ära blau-gelb angemalt. Den Aktivisten drohen dafür bis zu sieben Jahre Haft.

Russlands Rache kann grausam sein

Die Frau meines ehemaligen Mathelehrers, wohnhaft in einem badischen Dorf, hat erlebt, dass Russlands Rache grausam ist: Auf ihrem Facebook-Foto hatte sie ihr Gesicht blau-gelb eingefärbt, als Zeichen der Solidarität mit ihrer Heimat. Kurze Zeit später bezeichnete sie das russische Staatsfernsehen als eine Ärztin aus Deutschland, die mit Organen von gefallenen ukrainischen Soldaten handeln würde. Als Beweis wurden ihre Facebook-Fotos und erfundene Chats mit ukrainischen Bataillonanführern angeführt. Danach hagelte es Hass-Kommentare im Internet: Sie wurde als „faschistische Schlampe“ beschimpft, die an einen Panzer gebunden und zerrissen werden sollte. Dabei ist Olga Wieber nicht einmal Ärztin, sondern Mathematikerin.

Diese Lügen, die Feindschaft, die über Nacht entstanden ist, der gegenseitige Hass – das ist das Schlimmste für mich in der so genannten Ukraine-Krise, die in Wirklichkeit eine Krise zwischen Russland und dem Westen ist. Und deshalb herrscht zwischen Russland und der Ukraine Krieg. Das Internet ist voll davon, jeder westliche Russland-Korrespondent muss heute starke Nerven haben: Die Kommentare zu ihren Artikeln sind zum Teil haarsträubend.

Die Russen wollen nichts wissen von der Schuld, die ihr Land an der Tragödie hat

Ein Bild reicht schon, um Beziehungen abzubrechen. Ich teilte auf Facebook eine Karikatur aus der britischen „Times“: Sie zeigt Wladimir Putin mit nacktem Oberkörper vor einem Kamin, eine Kalaschnikow in der rechten Hand, mit der linken stützt er sich am Kaminsims ab. Über dem Kamin hängen seine „Trophäen“: Köpfe erlegter Bären, Tiger und Stiere. Sogar ein Nashorn ist dabei. Für Empörung sorgte aber die halbe Boeing 777 der Malaysia Airlines, die ebenfalls über dem Kamin zu sehen ist. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“, fragte ein Kollege aus Moskau, ein Kameramann, der für das russische Fernsehen arbeitet. Meine Antwort wartete er nicht einmal ab, die Freundschaft wurde gekündigt. Als ich meine Bewunderung für die Geste der Zeitung „Novaya Gazeta“ zum Ausdruck brachte, die sich auf ihrer Titelseite auf Niederländisch im Namen Russlands für den Flugzeugabschuss entschuldigte, wurde mein Lob in Häme und Groll ertränkt.

Die Russen wollen nichts wissen von der Schuld, die ihr Land an der Tragödie hat. „Wo sind die Beweise?“ fragen sie, diese notorischen Schlamper, plötzlich ganz pingelig geworden. Jeder hat seine Verschwörungstheorie parat. Dass die Wahrheit banal und schrecklich ist, will kaum einer akzeptieren. „Mein Land ist verrückt geworden und ich konnte nichts dagegen tun“, singt Andrej Makarewitsch, eine russische Rock-Legende, in seinem neuen Lied. Seit er vor ukrainischen Flüchtlingen aufgetreten ist, gilt er als „Nationalverräter“. Denn das russische Fernsehen machte aus Flüchtlingen ukrainische Soldaten – und das Volk ließ seinen Dichter fallen.

Putin sagt: Ich kümmere mich darum - und die Inszenierung ist perfekt

Russlands Präsident Wladimir Putin.
Russlands Präsident Wladimir Putin.

© dpa

Einer bleibt auf dem Olymp – der russische Präsident. Wie die Pythonschlange Kaa aus dem Dschungelbuch scheint er seine Äffchen hypnotisiert zu haben. Wladimir Putin verbietet die Einfuhr von Lebensmitteln aus dem Westen – und das Volk schreit „Hurra!“ Als hätten sie nicht alle erst vor kurzem Jamón und Mozzarella gekauft und den Bordeaux statt Wodka bestellt. Um es mit den Worten des auch in Deutschland bekannten russischen Schriftstellers Wiktor Jerofeew zu sagen: „Das Volk fühlt sich in seine Jugend zurückversetzt, es will sich wieder in die Schlange stellen für die beste Scheißwurst der Welt.“

Mir wäre es lieber, Putin würde rauchen und trinken

Schaut man Nachrichten im russischen Fernsehen, wird man den Eindruck nicht los, dass ohne Putin in Russland gar nichts läuft. Das war schon vor dem Einmarsch in die Ukraine so. Jetzt hat es schon Stalin’sche Ausmaße erreicht. Vor zehn Jahren habe ich mich noch über das Lied einer Mädchenband lustig gemacht: „Ich will so einen Mann wie Putin“. Sie sangen, dass er anders ist, als die typischen russischen Männer. Putin trinkt nicht, Putin raucht nicht… Heute bleibt mir das Lachen im Hals stecken: Mir wäre es lieber, er würde das alles tun. Denn in der Geschichte gab es schon mal einen Herrscher, der keinen Alkohol trank und nicht rauchte.

Was Putin anfasst, verwandelt sich in Gold. Ich bin mir sicher, dass Putins Lieblingsmomente während seiner jährlichen Live-Unterhaltung mit dem Volk diejenigen sind, wo er von irgendeiner zugeschalteten Oma aus dem hintersten Dorf gebeten wird, sich den bösen Ortsvorsteher vorzuknöpfen, der Holzbretter aus der Kolchose klaut. Dann kann er milde schauen und versprechen: Ich kümmere mich darum. Die Inszenierung ist perfekt.

In Russland existiert die Kultur der harten und autoritären Führer. Konsequent pflegt Putin dieses Image. Wer hätte im Jahr 2000 für möglich gehalten, dass dieses völlig unbekannte blasse, schmächtige Wesen mit dünnen Haaren 14 Jahre später als der lang ersehnte starke Mann gefeiert wird, ein „Mann mit Eiern in der Hose“?

Ich fragte einen Freund, der homosexuell ist, also nicht zu Putins Stammwählern zählt, ob er mit Putin sympathisiert. Er bescheinigte ihm „starkes Charisma“ und „Vorteile gegenüber anderen“. Dazu zählte er kalte Berechnung, Putins Fähigkeit, die „Pause zu halten“, also einfach zu schweigen, während andere (Merkel und Obama) eine Krisensitzung nach der anderen abhalten, sowie seinen kalkuliert-kumpelhaften Umgang mit den Untertanen, die ihn dennoch anbetet. Keine Eigenschaften eines positiven Charakters. Aber genau für diese wird er bewundert. Für seine Skrupellosigkeit. Putin ist einmal mehr der Beweis dafür, dass nicht nur Frauen Bad Boys verfallen können, sondern ganze Völker.

Das Irrationale des russischen Charakters wird kultiviert

Was auch kein Wunder ist. Zwei Mal in einem Jahrhundert flog das Wertesystem den Russen um die Ohren: 1917 und 1991. Das führte dazu, dass jeder seine eigenen Werte hatte. Einer wünschte sich das Imperium zurück, der zweite die Sowjetunion, der dritte wiederum schwor auf die westliche Demokratie, der vierte sah keine Perspektive und trank bis zur Besinnungslosigkeit, dem fünften war alles scheißegal. Eine Zivilgesellschaft konnte sich in Russland nie entwickeln, es gibt noch nicht einmal den Bürger, sondern nur das Volk. Hinzu kommt das Irrationale, die Widersprüchlichkeit des russischen Charakters, die kultiviert wird. In Moskau liegt der Russe betrunken im Graben, an der Côte d’Azur schlürft er Champagner. Nichts ist ihm fremder als Selbstreflektion. Der Lieblingsspruch der Russen stammt vom russischen Dichter Tjutschew: „Russland kann man nicht begreifen, gängige Maßstäbe versagen hier. Es hat einen besonderen Weg, an Russland kann man nur glauben.“ Russland liebt Überraschungen, Putin beherrscht diese Disziplin perfekt.

Der Westen darf nicht überrascht sein, wenn Russland Konsequenzen zieht

Russlands Präsident Wladimir Putin.
Russlands Präsident Wladimir Putin.

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Putin hat die Russen „aufgesammelt“. Er fand auch etwas, was alle eint: Zum einen ist das der tief sitzende Glaube, dass Russland eigentlich ein reiches, mächtiges Land ist, das alles alleine kann. Es muss nur einer kommen, der den Funken entfacht, und schon fliegt der nächste Gagarin ins Weltall. Das zweite ist realer, weil es jede russische Familie betrifft – der Zweite Weltkrieg. Diesen Triumph über den Faschismus, den eine russische Zeitschrift anlässlich der 60-Jahr-Feier vor knapp zehn Jahren als den „letzten Stolz Russlands“ bezeichnete, hat er endgültig zum festen Bestandteil der russischen Identität stilisiert. So wie die orthodoxe Kirche ist er auf immer und ewig mit der russischen Seele verbunden. Wenn Putin heute im Fernsehen erzählt, in der Ukraine seien die Faschisten an der Macht, steht das Volk geschlossen hinter ihm.

Der Putinismus verbreitet sich wie ein Spinngewebe

Für diese Regierungsform gibt es bereits einen Fachausdruck: Putinismus. Der Putinismus ist gekennzeichnet durch Nationalismus, Konservatismus, Religion, den staatlich gelenkten Kapitalismus und Kontrolle über die Massenmedien. Diese Regierungsform finden auch andere Politiker attraktiv – der ungarische Premier zum Beispiel.

Für mich steht Putinismus auch für die Mentalität, die sich momentan wie ein Spinngewebe über das Land verbreitet. Die Russen sind vom Putinismus befallen, von einer Haltung gegenüber der Welt jenseits der russischen Grenzen, die auf Misstrauen und Unterstellung basiert: Der Feind lauert überall, der Westen will Russland erniedrigen. Die Argumentationsstrategie basiert auf einem Gegenvorwurf. Die USA wollten doch die Welt vor der angeblichen irakischen Massenvernichtungswaffen bewahren – warum sollen wir nicht Russen in der Ukraine vor den angeblichen Faschisten schützen dürfen? Ihr liefert Waffen an Saudi-Arabien, das islamische Terroristen finanziert – warum dürfen wir dann nicht die Separatisten unterstützen, die dafür sorgen, dass unser Erzfeind (die Nato) nicht bald vor unseren Grenzen steht?

Mit Bush, Berlusconi und Schröder hat der Westen gezeigt, dass er verlogen, verdorben und käuflich ist. Moralische Überlegenheit akzeptiert Russland deshalb nicht. Kritik wird als Anmaßung empfunden. Zum Teil erreicht sie auch groteske Ausmaße: Ich fand zum Beispiel die Berichterstattung im Westen über die Olympischen Spiele von Sotschi bizarr. Sie war so negativ, dass sie irgendwann die Glaubwürdigkeit verlor. Als ich einer deutschen Zeitung vorschlug, darüber zu schreiben, lautete die Antwort: Positives über Putin ist nicht erwünscht.

Auch daran liegt es, dass der russischen Außenpolitik Vergeltung zugrunde liegt. Auge um Auge, Sanktionen für Sanktionen. Wenn es nötig ist, wird man dummdreist: „Die russischen Soldaten haben irrtümlich die Grenze überschritten.“ Und zu Hause lacht man sich ins Fäustchen. Der Putinismus ist eng mit Zynismus verwandt. Geradlinigkeit, seelische Größe, Intellektualität sind keine Tugenden mehr. Gegenstimmen werden einfach ignoriert. Der Putinismus zeigt auch Elemente des Breschnew’schen „Sastoj“, des Erstarrens der Gesellschaft: Menschen verabschieden sich in die innere Emigration. Man sagt das eine und denkt das andere.

Das menschliche Leben zählt nichts

Das wichtigste Ziel ist: Jetzt zeigen wir es euch! Dem Westen den Stinkefinger zeigen, das ist in Russland ein geläufiger Ausdruck. Die Haupterkenntnis des Jahres 2014 – und diese Erkenntnis ist so alt wie Russland – ist: Die Russen sind keine Europäer. Und sie sind stolz darauf! Stärker als die Europäer sind wir allemal: Denn das menschliche Leben zählt nichts.

Ich befürchte, die Krim bekommen die Ukrainer nicht zurück. Auch die Ostukraine ist verloren. Selbst wenn deutsche Politiker – wie unlängst Peter Altmaier bei „Hart aber Fair“ – betonen, dass die Ukraine nun mal selbst entschieden hat, den europäischen Weg zu gehen und Europa der Ukraine einfach nur die Hand gereicht habe. Das ist wahr. Gleichzeitig darf man darf nicht überrascht sein, wenn Russland daraus seine Konsequenzen zieht. Und Putin wird nicht loslassen. In dem Lied, das ich nicht mehr singen darf, heißt es: „Dort, wo der Maidan endete, gab es keine Ruhe mehr.“

Alia Begisheva wuchs in Moskau auf, lebt seit 20 Jahren in Deutschland und arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt am Main. Sie studierte Volkswirschaftslehre in Mainz und ist Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg.

Alia Begisheva

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