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Auf der Hut: Blufft das russische Militär nur, oder will es angreifen? Wachmann der ukrainischen Armee an der Demarkationslinie zu Rebellengebiet nahe Donetsk.

© REUTERS

Russlands Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine: Deutschland kann sich zu keiner Reaktion durchringen

Ist es nur eine Drohgebärde - oder will Russland noch mehr ukrainisches Territorium erobern? Die große Koalition droht noch nicht mit konkreten Schritten. Ist das klug?

Von Hans Monath

Erstaunlich gleichmütig schien die deutsche Politik am Wochenende auf die alarmierenden Nachrichten vom russischen Militäraufmarsch an der Nord- und Ostgrenze der Ukraine zu reagieren, denn nur das Auswärtige Amt meldete sich gemeinsam mit dem französischen Außenministerium mit einer gleichermaßen an Russland und die Ukraine gerichteten Mahnung zu Wort. Doch womöglich war es nur die Osterpause, die harte öffentliche Urteile und Warnungen an die Regierung in Moskau verhinderte.

Am Dienstag jedenfalls machten Vertreter der großen Koalition deutlich, dass Russland in ihren Augen erneut rote Linien zu überschreiten droht. Konkrete Gegenmaßnahmen im Falle weiterer Eskalation drohten sie im Gegensatz zu Politikern der Grünen und der FDP allerdings nicht an.

Denn noch scheint offen, ob es um Drohgesten, einen Test der Führungskraft des neuen US-Präsidenten Joe Biden oder um die Vorbereitung neuer Geländegewinne geht. Gerade in dieser offenen Lage, so mahnt Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), seien gemeinsame „glaubhafte Sanktionsdrohungen“ aus Washington, Paris und Berlin notwendig. 

Angesichts von Berichten über russische Truppenaufmärsche wächst derzeit international die Sorge, dass der seit sieben Jahren andauernde Konflikt zwischen Russland und der Ukraine erneut eskalieren könnte. Seit etwa sieben Jahren werden Teile der ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk entlang der russischen Grenze von Rebellen kontrolliert, die von Russland unterstützt werden. Infolge der Kämpfe gegen Regierungstruppen sind nach UN-Schätzungen mehr als 13.000 Menschen getötet worden.

"Putins Säbelrasseln ist hoch gefährlich"

Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jürgen Hardt (CDU), nannte die Berichte „höchst alarmierend“ und erklärte: „Putins militärisches Säbelrasseln ist hoch gefährlich.“ Damit säe er nicht nur zusätzliche Instabilität in Europa, sondern gebe den vom Kreml dirigierten Separatisten im Donbass „zusätzliche Rückendeckung, sich an die Minsker Vereinbarungen nicht zu halten“.

Karte der seit 2014 von Separatisten oder Russland besetzten ukrainischen Gebiete.
Karte der seit 2014 von Separatisten oder Russland besetzten ukrainischen Gebiete.

© AFP

Konkrete Gegenmaßnahmen drohte der CDU-Politiker nicht an, mahnte aber: „Putin muss wissen, dass die transatlantischen Partner fest an der Seite der Ukraine stehen.“  Es sei richtig, dass sich auch der NATO-Rat mit der Situation an der Grenze der Ukraine befasst, denn es gehe um die Sicherheit und Stabilität Europas. Hardt weiter: „Eine neuerliche Aggression Russlands gegen die Ukraine würde die europäische Sicherheitsordnung in ihren Grundfesten erschüttern.“

"Wir sollten uns nicht provozieren lassen", sagt der SPD-Mann

Auch Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, sagte, die russischen Truppenbewegungen seien unverantwortlich und trügen zu einer gefährlichen Eskalation der Lage bei. „Es spricht viel dafür, dass es sich dabei sowohl um ,show of force‘ gegenüber der Ukraine, als auch um einen ,Test‘ gegenüber der neuen US-Administration und der Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft handelt“, meinte er.

Auch könne es Russland darum gehen, die Autorität des ukrainischen Präsidenten Selenskij zu unterminieren. „Außerdem ist man in Moskau frustriert über die ausbleibenden politischen Erfolge im Ostukraine-Konflikt und versucht mit dem militärischen Säbelrasseln, den eigenen Forderungen stärkeren Nachdruck zu verleihen, möglicherweise auch, um die Ukraine zu unüberlegten Handlungen zu verleiten.“

Schmid weiter: „Wir sollten unsere Solidarität gegenüber der Ukraine deutlich zeigen, uns zugleich aber nicht provozieren lassen und unnötigen Alarmismus vermeiden. Dies gilt auch für die ukrainische Führung. Beide Seiten sind jetzt aufgerufen, alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Eskalationsspirale vorantreiben.“

FDP-Außenpolitiker Bijan Djir-Sarai erklärte, das Vorgehen zeige „deutlich, dass Putin keinerlei Interesse an vertrauensbildenden Maßnahmen hat“. Der liberale Politiker forderte Außenminister Heiko Maas (SPD) auf, dringend mit seinem russischen Amtskollegen Lawrow zu sprechen und deutlich zu machen, „dass eine weitere Eskalation nicht folgenlos bleiben wird“.

Die Handlungsmöglichkeiten der Europäer sind Djir-Sarai zufolge aber nicht groß: „Die Hebel, die die Europäische Union in der Hand hält, sind in der Tat sehr gering beziehungsweise werden die wenigen vorhandenen zu langsam und zu zögerlich eingesetzt“, erklärte er: „Rhetorik in Form von leeren Worten dominieren gegenwärtig die europäische Russlandpolitik - davon lässt sich Putin nicht mehr beeindrucken.“ Handlungsspielraum bestehe vor allem nach wie vor bei einem Moratorium für die Gaspipeline Nord Stream II sowie der Ausweitung und Intensivierung personenbezogener Sanktionen.

Die Grünen forderten eine gemeinsame Intervention von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. "Es ist unerheblich, ob der Kreml die Front verlagern oder Biden testen will. Entscheidend ist, dass die russischen Streitkräfte auf dem Territorium eines Nachbarlandes die Situation eskalieren“, sagte der Außenpolitiker Omid Nouripour dem Tagesspiegel: „Wenn Merkel und Macron nicht schnell die Stimme zugunsten der Ukraine erheben, dann versündigen sie sich nicht nur am bereits mehrfach gebrochenen Völkerrecht, sondern schwächen damit ihre eigene Verhandlungsposition im Normandie-Format, dem politischen Dialog-Forum des Konflikts“. Die Bundesregierung müsse nun „schleunigst das umstrittene Pipeline Projekt Nord Stream 2 beenden“, forderte der Grünen-Politiker: „Alles andere wäre eine Einladung Russlands seinen aggressiven Kurs fortzusetzen."

Könnte eine schnelle Sanktionsdrohung des Westens ihn beeindrucken? Russlands Präsident Wladimir Putin kalkurliert hart, aber er kalkuliert.
Könnte eine schnelle Sanktionsdrohung des Westens ihn beeindrucken? Russlands Präsident Wladimir Putin kalkurliert hart, aber er kalkuliert.

© imago images/ITAR-TASS

Im Gegensatz zu FDP und Grünen richtete die Linkspartei ihre Mahnungen vor allem an die Ukraine und nicht an Russland. „Die Drohungen der Ukraine im Hinblick auf die Krim, das Ignorieren des Minsker Abkommens durch Kiew und die militärische Konzentration in der Region sind äußerst besorgniserregend", sagte Linken-Fraktionsvize Sevim Dagdelen. Sie fügte hinzu: "Es ist ein Armutszeugnis, dass die Bundesregierung das Vorgehen gegen unliebsame Fernsehsender wie auch die fortgesetzten Attacken gegen Minderheitenrechte durch den ukrainischen Präsidenten einfach verschwiegen hat." Die Bundesregierung müsse nun alles tun, um eine weitere Eskalation der Situation zu verhindern, und sich für einen beiderseitigen Truppenrückzug sowie die Einhaltung des Minsker Abkommens einsetzen. Die Aufrüstung der Ukraine mit Kampfdrohnem durch den Nato-Partner Erdogan müsse durch Berlin deutlich verurteilt werden.

Braucht Moskau einen Deckmantel für weitere Annexionen?

Russland-Experte Kluge von SWP hält angesichts einer möglichen weiteren Eskalation der Lage ein klares und schnelles Zeichen des Westens für notwendig. Die aktuelle russische Truppenverlegung sei „besorgniserregend“, sagte er dieser Zeitung. Russland baue eine gewaltige militärische Drohkulisse auf und setzt die Ukraine unter Druck. Gleichzeitig werde auch in Russland der Boden für eine mögliche Militäroperation bereitet, da im russischen Staatsfernsehen Anschuldigungen gegen die Ukraine erhoben würden, die ein militärisches Eingreifen rechtfertigen könnten. „Unter dem Deckmantel einer ,Peacekeeping-Mission‘ könnte sich das russische Militär dauerhaft in der Ostukraine einrichten“, warnte der Experte.

Noch sei unklar, ob es bei der Drohgebärde bleibe. „Auch im Kreml dürfte dazu noch keine finale Entscheidung getroffen worden sein. Deshalb ist wichtig, dass Deutschland, Frankreich und die USA gegenüber Moskau umgehend deutlich machen, was die Konsequenzen eines militärischen Eingreifens wären“, erklärte Kluge: „Demonstrative Beratungen zwischen EU und USA über mögliche weitere Sanktionen gegen Russland wären eine Möglichkeit.“

Offenbar mit Blick auf die Erklärungen des deutschen und französischen Außenministeriums sowie aus der großen Koalition meinte der Russland-Fachmann: „An alle Seiten gerichtete Appelle zur Deeskalation signalisieren Moskau hingegen eher, dass der Westen sich aus einem möglichen Konflikt heraushalten wird.“

Die russische Regierung kalkuliert - ein Preis könnte ihr zu hoch sein

Die Politik der Sanktionierung der Annexion der Krim durch die EU und die USA sei erfolgreich gewesen, meinte Kluge. Beide hätten mit den Wirtschaftssanktionen bewiesen, „dass sie ihre Interessen gegenüber Russland verteidigen werden, auch wenn es einen Preis hat“. Für Russland seien mögliche neue Sanktionen seit 2014 zu einem wichtigen Teil des außenpolitischen Kalküls geworden.

Will die russische Seite mit dem Aufmarsch seine Reaktionsbereitschaft testen? US-Präsident Joe Biden mit Reportern vor dem Weißen Haus.
Will die russische Seite mit dem Aufmarsch seine Reaktionsbereitschaft testen? US-Präsident Joe Biden mit Reportern vor dem Weißen Haus.

© AFP

Zwar sei es „fast unmöglich, Russland mit Sanktionen dazu zu zwingen, einen Schritt zurück zu gehen“, meinte der SWP-Mitarbeiter: „Viel besser stehen die Chancen, ein russisches Eingreifen in der Ukraine im Vorfeld mit einer glaubhaften Sanktionsdrohung zu verhindern. Deshalb sollte der Westen nicht erst dann reagieren, wenn die Würfel in Moskau gefallen sind.“

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sicherte der Ukraine Solidarität in dem sich wieder zuspitzenden Konflikt mit Russland zu, stellte allerdings keine militärische Unterstützung in Aussicht. Die Nato unterstütze nachdrücklich die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine und bleibe der engen Partnerschaft verpflichtet.

In den vergangenen Wochen kam es trotz einer vereinbarten Waffenruhe immer wieder zu tödlichen Zwischenfällen in der Ostukraine. Allein seit Jahresbeginn starben auf Regierungsseite mindestens 24 Soldaten. Die Separatisten sprachen zuletzt in ihrem Gebiet von rund 23 getöteten Menschen.

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Ein Eingreifen der Nato in den Konflikt gilt als ausgeschlossen, da die Ukraine nicht zu den Bündnismitgliedern zählt. Denkbar ist allerdings, dass einzelne Bündnismitglieder wie die USA bei einer erneuten Eskalation Unterstützung leisten könnten. US-Präsident Joe Biden hatte Selenskyj zuletzt versichert, dass er auf die „unerschütterliche Unterstützung“ Amerikas für die Souveränität des Landes zählen könne. Vertreter der 30 Nato-Staaten hatten sich zuletzt am vergangenen Donnerstag in einer Sitzung des Nordatlantikrats über die Lage ausgetauscht - über konkrete Ergebnisse wurde allerdings nichts bekannt.

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