zum Hauptinhalt
Vorbereitungen für Brüssel - oder was man so nennt. Bundeskanzlerin Angela Merkel empfängt Emmanuel Macron zam 18. Juni 2021.18.06.2021 zum Abendessen im Berliner Kanzleramt.

© imago images/Political-Moments

Russlandpolitik: Kuschen vor dem großen Bären

Angela Merkels letzter Auftritt beim Brüsseler EU-Gipfel war ein Fehlschlag – für Deutsche und Franzosen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Der letzte reguläre EU-Gipfel, an dem Angela Merkel als Kanzlerin teilgenommen hat, endete aus Sicht der Regierungschefin zwar mit warmen Abschiedsworten, aber mit einem politischen Fehlschlag. Die deutsch-französische Gemeinschaftsinitiative für ein Treffen der Europäischen Union mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Brüssel scheiterte krachend, weil sie schlecht vorbereitet war und grundlegende Bedenken viele Mitgliedsstaaten nicht ernst genommen hatte.

Es war ein Anfängerfehler, der Emmanuel Macron und Angela Merkel da unterlaufen ist, eigentlich unentschuldbar bei zwei Politikern, die an der Spitze der einflussreichsten EU-Staaten stehen.

War er dem Bemühen der Kanzlerin geschuldet, am Ende ihrer 16-jährigen Amtszeit gegenüber dem engsten Partner auf diplomatischem Wege Abbitte zu leisten – Abbitte dafür, dass sie seit 2017 auf die erste große Reformrede des damals neu gewählten französischen Präsidenten bis heute keine angemessene Antwort gefunden hat? Wollte sie ein letztes Mal zeigen, dass sie nicht nur die Zögernde und Taktierende ist, sondern in großen Linien denkt?

Auch Macron, aber vor allem Merkel, hatte bei dieser Initiative die Sorgen vieler EU-Mitgliedsstaaten gegenüber dem expansiven Großmachtanspruch von Putins Russland außer Acht gelassen.

Seit der russischen Invasion der ukrainischen Halbinsel Krim ist ein eherner Grundsatz der europäischen Politik – auf dem auch die international akzeptierte Wiedervereinigung Deutschlands beruht – ins Wanken geraten, ja von Moskau für disponibel erklärt worden: dass die Grenzen aller Länder Europas unverletzbar sind. Auf der Krim und in der Ostukraine hat Russland bewiesen, dass nicht das internationale Recht, sondern Militärmacht im Grenzgebiet des von Moskau aus regierten Territoriums das Sein bestimmt.

Angst auf dem Baltikum

Seitdem herrscht Angst auf dem Baltikum, in Polen und anderen Ländern Ostmitteluropas. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hat die Einladung Putins nach Brüssel ohne Vorbedingungen als „eine Art Belohnung für den russischen Präsidenten“ genannt. Sein lettischer Amtskollege konnte seine Empörung kaum noch diplomatisch verbrämen, kein Wunder angesichts der russischen See- und Luftmanöver im baltischen Raum.

Und noch eines: Das deutsche Beharren auf dem Fertigbau der Erdgasleitung Nord Stream 2 zeigt den Regierungen in Estland, Lettland und Litauen, aber auch Polen, dass Deutschland seine Energiepolitik ohne Rücksicht auf die in ihrem Sicherheitsgefühl tangierten Staaten Ostmitteleuropas durchzusetzen will. Stattdessen wurde in Brüssel, ganz anders, als es sich Deutsche und Franzosen vorgestellt hatten, ein Plan für weitere Strafmaßnahmen gegen Russland verabschiedet, falls von dort neuerliche „böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivitäten“ ausgehen sollten.

Prinzipiell wünschen sich die meisten EU-Staaten durchaus eine abgestimmte deutsch-französische Europapolitik. Aber das heißt nicht nur, dass sich Berlin und Paris koordinieren sollen, sondern dass sie vor allem die Befindlichkeiten der mittleren und kleinen Nationen im Blick haben müssen.

In dieser Mischung aus Wollen und Bremsen steckt eine gewisse Schizophrenie: Der Respekt vor dem ökonomischen und politischen Potenzial der beiden Großen ist nicht ohne Angst davor, dass die ihre Machtmittel auch nutzen. Und dann ist da ja auch noch Italien, von dem immer wieder vergessen wird, dass es ungeachtet aller politischen und sozialen Disruptionen der weit bedeutendere Industriestandort als Frankreich ist.

Hätte Angela Merkel, vom jetzigen Debakel abgesehen, Europa an anderer Stelle voranbringen können? Ihre Kritiker werfen ihr vor, sie habe mit dem türkischen Diktator Erdogan einen Flüchtlingsdeal vereinbart, ohne auf die dort wachsende Willkür gegen politische Gegner einzugehen.

Die Unterstützung der Türkei hat sich gelohnt

Aber diese Kritik ist wohlfeil, denn die gleichen Kritiker warfen ihr in Deutschland vor, sie habe mit ihrer humanen Grundhaltung die Masseneinwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland erst ausgelöst. Tatsächlich leben heute in der Türkei 4,1 Millionen Flüchtlinge, darunter 3,6 Millionen aus Syrien. Die Milliarden-Investition der EU in der Unterstützung der Türkei bei der Unterbringung von Heimatlosen hat sich also – auch wenn das zynisch klingen mag – gelohnt.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Und die Finanz- und Wirtschaftskrise? Merkel hat sich gegen alle Versuche gewehrt, den südeuropäischen Staaten durch das, was man eine gemeinschaftliche Verschuldung nennen könnte, aus ihrer ökonomischen Krise zu helfen. Das Bundesverfassungsgericht hätte auch alles andere verhindert. Erst jetzt, in der Pandemie, die den Kontinent in seinen sozialen Grundfesten erschütterte, kam es zu einem gemeinsamen Programm, für das am Ende auch alle haften müssen.

Dass mindestens zwei EU-Mitgliedsstaaten, Polen und Ungarn, gerade rechtsstaatliche Prinzipien wie Gewaltenteilung und Pressefreiheit untergraben, kann auch eine Bundeskanzlerin nicht verhindern. Unterstützen kann sie da nur – und das tut sie nach Kräften – kollektives Handeln. Man kann es als kleinen Erfolg bezeichnen, dass Deutschland keine der europäischen Krisen mitverursacht hat. Dass es bei ihrer Bekämpfung eine engagiertere Rolle hätte spielen können, steht auf einem anderen Blatt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false