zum Hauptinhalt
Am Montag treffen sich in Helsinki Donald Trump und Wladmir Putin.

© dpa/Valda Kalnina

Russland und der Westen: Was wir von Egon Bahr lernen können

Vor 55 Jahren hielt Egon Bahr eine Rede, die die Entspannungspolitik einleitete. Am Montag trifft US-Präsident Trump den russischen Präsidenten Putin. Wir brauchen einen neuen Wandel durch Annäherung.

Es ist genau 55 Jahre her, dass der Sozialdemokrat Egon Bahr mit seiner Rede zur Strategie einer deutsch-deutschen Annäherung in der evangelischen Akademie Tutzing die künftige Entspannungspolitik der Sozialdemokratie unter ihrem Vorsitzenden Willy Brandt einleitete. Bahr strebte nicht weniger als die Überwindung der deutschen Teilung an. Ein Prozess, wie er formulierte, „von vielen Schritten und vielen Stationen“. Und gerade dieser Hinweis ist für unsere heutigen Konflikte mit Russland von großer Bedeutung. Denn auch heute noch gilt Bahrs Diktum, dass „die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet (…) und in einer Strategie des Friedens sinnlos ist“.

Bahr wusste: Die Schritte zur Entspannung des deutsch-deutschen Verhältnisses waren nicht gegen den Willen der DDR-Führung und schon gar nicht gegen den Willen der Sowjetunion zu realisieren. Ein Regimewechsel durch die Politik harter Konfrontation war illusorisch. Man müsse die Auflockerungen der Grenzen auf Wegen erreichen, die das Risiko eines Regimesturzes für die kommunistischen Diktaturen als „erträglich“ erscheinen ließen, durch schrittweise Veränderungen. „Das“, so Egon Bahr 1963, „ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“

Heute herrscht in der Russlandpolitik wieder die Konfrontation vor

Voraussetzung für diesen Strategiewechsel war die Verankerung der Bundesrepublik in Europa und der Nato. Die Entspannungspolitik der SPD stand im Einklang mit der Politik der USA unter Präsident John F. Kennedy. Wer heute Kennedys Rede vom 10. Juni 1963 zur „Strategy for Peace“ nachliest, dem wird mit klar, wie sehr wir wieder in die Zeit der Konfrontation zurückgefallen sind.

Heute herrscht im Westen wieder die Überzeugung, dass Sanktionen und eine massive, auch atomare, Aufrüstung geeignete Mittel seien, um Russland zu einem Wechsel seiner Innen- und Außenpolitik zu bringen. Russland setzt ebenso auf militärische Aufrüstung. Um als Großmacht auf die Weltbühne zurückzukehren, ist Russland bereit, mit dem syrischen Diktator Assad gemeinsame Sache zu machen und eine Art Großmachtsteuer zu zahlen – in Form von Sanktionen, internationaler Ächtung und hohen Militärausgaben.

Die Rede Egon Bahrs vor 55 Jahren kann uns heute mit Blick auf die Rolle Russlands durchaus noch helfen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich Russland ähnlich wie die Sowjetunion nicht durch Druck und Konfrontation zu einer anderen Politik wird bewegen lassen. Und ebenso wie damals bedarf es einer selbstbewussten und geeinten Politik des Westens. Bahr war weder ängstlich noch naiv, sondern schlicht realistisch. Das sind gute Leitplanken, auch wenn die historischen Umstände nicht ganz vergleichbar sind.

Die vollständige Umsetzung des Minsk-Abkommens ist derzeit unrealistisch

Trump ist nicht Kennedy und Putin kein Status-quo-Politiker. Aber wenn es damals die Politik Egon Bahrs war, kleine Türen in den eisernen Vorhang zu bauen, um irgendwann das große Brandenburger Tor aufstoßen zu können, dann ist es heute unsere Aufgabe, wieder mit schmalen Brücken über den Graben anzufangen. Rüstungskontrolle zum Beispiel ist ein Instrument für schlechte Zeiten, doch fast alle ihre Instrumente bleiben derzeit ungenutzt. Ein Waffenstillstand und ein Rückzug der schweren Waffen in der Ost-Ukraine, wie schon oft verabredet, muss endlich durch ein robustes UN-Mandat durchgesetzt werden.

Dass Russland dafür andere Bedingungen durchsetzen will als Europa, muss uns an den Verhandlungstisch bringen. Nach einem erfolgreichen Waffenstillstand muss dann der Abbau von Sanktionen beginnen, nicht erst wenn das gesamte Minsker Abkommen über die Zukunft der Ost-Ukraine umgesetzt ist. Das wäre unrealistisch. Wandel durch Annäherung wird es nur geben, wenn möglichst viele Russen in europäischen Firmen Arbeit finden und den Unterschied zwischen russischen Oligarchen und der sozialen Marktwirtschaft kennenlernen. Dafür aber brauchen wir mehr Investitionen in Russland. Und die Verdoppelung der deutschen Goethe-Institute und der deutschen Schulen in Russland wäre vermutlich die beste Investition, die wir für unsere Interessen in Russland vornehmen könnten.

Auch aus den Fehlern Egon Bahrs muss man lernen: So großartig die Weitsicht Bahrs in der ersten Phase der Entspannungspolitik war, so problematisch war die Politik der SPD in der zweiten. Ende der 70er Jahre und zu Beginn der 80er Jahre ignorierte die Sozialdemokratie die Bürgerrechtsbewegungen vor allem in Polen. Sie galten eher als Risikofaktor. Eine fatale Fehleinschätzung, die uns im Umgang mit kritischen Bürgerbewegungen und Medien in Russland nicht noch einmal passieren darf.

Das alles ist nicht einfach. Das alles wird immer wieder Rückschläge erfahren. Aber das wusste Egon Bahr 1963 auch. Deshalb folgte er der Strategie der kleinen, aber am Ende wirksamen Schritte. Es wird Zeit, dass wir damit erneut beginnen.

Sigmar Gabriel war Vorsitzender der SPD und mehrfach Bundesminister. Er gehört dem Deutschen Bundestag an.

Zur Startseite