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Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde laut Charité vergiftet.

© Maxim Shipenkov/EPA/dpa

Russische Zweifel an der Nawalny-Diagnose: „Wenn sie ihn hätten töten wollen, hätten sie ihn getötet“

Laut einer Untersuchung der Berliner Charité wurde der Kremlkritiker Nawalny wohl vergiftet. In Russland hält man wenig von dem Befund.

Der russische Oppositionelle Alexey Nawalny wurde höchstwahrscheinlich vergiftet. Die Ärzte der Berliner Charité teilten am Montag mit, dass sie bei Nawalny eine Substanz aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer festgestellt haben. Der konkrete Stoff sei jedoch nicht bekannt. Nawalny befindet sich noch immer auf der Intensivstation im künstlichen Koma. Die Spätfolgen der Vergiftung für das Nervensystem sind noch nicht absehbar.

Und noch immer sind auch die genauen Umstände des Falls unklar. Nawalny hatte bei einer Reise in Sibirien in einem Flugzeug unter Schmerzen das Bewusstsein verloren. Zudem wurde bekannt, dass er bei dem Aufenthalt in Sibirien von Sicherheitskräften beschattet worden sein soll.

Zur Aufklärung tragen die offiziellen russischen Stellen derzeit auch wenig bei. Schlimmer noch: Aktuell versuchen sowohl Medien als auch die Politik, Zweifel an der Arbeit der deutschen Ärzte zu wecken.

Schon am Montag hatten sich die russischen Ärzte, die Nawalny zuerst im sibirischen Omsk behandelten, zu den Befunden aus Berlin geäußert: Die Untersuchungen in den Laboratorien in Moskau und Tomsk hätten keine chemischen oder gar toxischen Substanzen gefunden, „die als Gift oder giftähnliche Stoffe" hätten ausgemacht werden können, ließen Alexander Murakhovsky und Anatoly Kalinichenko bei einer Pressekonferenz wissen.

Stattdessen lautete die vorläufige Diagnose: Stoffwechselstörung. Zuerst hatten die Ärzte Nawalny nicht nach Berlin fliegen lassen wollen. Erst nach langem Hin und Her erklärten sie ihn für transportfähig.

Das sagen die russischen Ärzte nach der Charité-Diagnose

Nawalny sei auch in Omsk auf Cholinesterase-Hemmer getestet worden, erklärten die Ärzte. „Das Ergebnis war negativ", sagt der Cheftoxikologe des Krankenhauses. Ihm sei bereits wenige Minuten nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus in Omsk Atropin verabreicht worden, ein Gegenmittel bei Vergiftungen mit Cholinesterase-Hemmern.

Anatoly Kalinitschenko, stellvertretender Chefarzt des Ambulanzkrankenhauses in Omsk, bei einer Pressekonferenz.
Anatoly Kalinitschenko, stellvertretender Chefarzt des Ambulanzkrankenhauses in Omsk, bei einer Pressekonferenz.

© Evgeniy Sofiychuk/AP/dpa

„Wir haben für eineinhalb Tage jede Minute um sein Leben gekämpft“, sagte Kalinichenko. „Wir haben Nawalny genauso behandelt, wie wir jeden anderen Patienten behandelt hätten.“ Wegen Nawalnys „sozio-politischem Status“ wussten die Ärzte, so Kalinicheno, dass ein besonderes Augenmerk auf sie gerichtet werden würde.

Eine Bestätigung für die Version der deutschen Ärzte, hätten die Ärzte aus Omsk nicht gefunden, wie einer der behandelnden Ärzte gegenüber der Nachrichtenagentur „RIA Novosti“ zudem erklärte. „Sie sprechen von klinischen Daten, und nicht von der Substanz selbst, die weder wir noch sie bisher gefunden haben.“

Russisches Gesundheitsministerium: Diagnose sei „voreilig“

Im Gespräch mit der privaten russischen Nachrichtenagentur TASS sagte der führende Anästhesist des russischen Gesundheitsministeriums, Igor Moltschanov, dass Nawalny beim Transport nach Berlin „ein Präparat“ erhalten haben könnte, das die gleichen Testergebnisse wie bei einer Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern liefern könnte.

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TASS zitiert auch Sergei Shigeev, Leiter des forensischen Büros im Moskauer Gesundheitsministerium: „Die Vorwürfe, dass Nawalny vergiftet wurde, sind voreilig. Das klinische Bild entspricht nicht dem in solchen Situationen typischen Bild.“ Der Kreml äußerte am Dienstagmittag zudem sein Unverständnis über die „deutsche Eile“ bei Nawalnys Gift-Diagnose.

Kira Jarmysch, Nawalnys Sprecherin, zweifelte derweil auf Twitter die Kompetenz der Ministeriumsmitarbeiter an. „Das weiß natürlich ein Mitarbeiter des Moskauer Gesundheitsministeriums“, kommentierte Jarmysch zynisch.

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Nawalnys Team warf den russischen Ärzten vor, unter Druck der Behörden agiert zu haben. Sie hätten „lange auf Zeit gespielt, bis das Gift wohl nicht mehr in Nawalnys Körper nachweisbar war“, sagte Nawalnys Mitarbeiterin Ljubow Sobol dem „Spiegel“.

„Substanzen mit neuro-politischer Wirkung“

In den russischen Medien ergibt sich ein uneinheitliches Bild im Umgang mit dem Fall. Die russische Tageszeitung „Nesawissimaja Gazeta“ nennt die Diagnose der Charité „alarmierend“. „Dagegen listete die Diagnose der Omsker Ärzte nur das auf, was bei den Untersuchungen des Oppositionellen nicht gefunden worden war.“

Die Tageszeitung „Kommersant" titelt: „Substanzen mit neuro-politischer Wirkung“. Das Medium galt bis vor Kurzem, als die Chefredaktion wechselte, als eine der letzten unabhängigen Tageszeitungen in Russland.

In dem „Kommersant“-Artikel über Nawalnys Diagnose wird die Molekularbiologin Irina Jakutenko zitiert. Sie behauptet, dass auch das Gift „Nowitschok“, mit dem der ehemalige russische Doppelagent Sergei Skripal und seine Tochter vergiftet wurden, zur Gruppe der Cholinesterase-Hemmer gehöre.

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Der Chemiker Vladimir Uglev jedoch, der als Erfinder des Nervengifts „Nowitschok“ gilt, sagte, er hielte die Verwendung des Gifts in diesem Fall für unwahrscheinlich. Der staatlichen Nachrichtenagentur „Interfax“ sagte Uglev, Cholinesterase-Hemmer würden bei Alzheimer-Patienten zum Einsatz kommen. Bei gesunden Menschen hätte der Stoff jedoch eine ähnliche Wirkung wie das Giftgas Sarin – eines der tödlichsten Giftgase weltweit. Der Einsatz von Atropin, das kein Gegengift für Nowitschok sei, deute jedoch daraufhin, dass Nawalny nicht mit Nowitschok vergiftet worden sei, so Uglev gegenüber dem russischen Dienst von BBC News.

Der Soziologe Gleb Kusnezow sagte gegenüber „Kommersant“, man dürfe die Entscheidungen der russischen und deutschen Ärzte nicht zu sehr politisieren. „Man kann professionellen Ärzten immer trauen, weil sie keine Politiker sind.“

Zweifel an der Diagnose der Charité

In der Tageszeitung „Moskowski Kosmomolez“ kommt ein nicht namentlich genannter Experte zu Wort, der die Ergebnisse der Charité anzweifelt. „Nach fünf Tagen festzustellen, dass Nawalny ein Präparat verabreicht wurde, das auf Cholinesterase wirkt – das ist aus dem Bereich der Fiktion.“

„Na also, Chinesterase in der Weltpolitik“, zitiert die populäre und als staatsnah geltende Tageszeitung „Komsomolskaja Pravda“ den Arzt Alexander Mjasnikov. Er betonte in der Zeitung zudem, dass Cholinesterase-Hemmer am häufigsten in Düngemittel vorkämen und es Tausende ähnlicher Vorfälle in den USA gebe. Der Tenor: Nawalny hat seinen Zustand selbst zu verantworten. „Wenn sie ihn hätten töten wollen, hätten sie ihn getötet“, sagte Mjasnikov in der „Komsomolskaja Pravda“.

Sanitäter der Bundeswehr bringen die Spezialtrage, mit der Nawalny in die Charite eingeliefert wurde, zurück in den Krankenwagen.
Sanitäter der Bundeswehr bringen die Spezialtrage, mit der Nawalny in die Charite eingeliefert wurde, zurück in den Krankenwagen.

© Kay Nietfeld/dpa

Und auch die Zeitung „Iswestija“ zitiert einen Mediziner, der bezweifelt, dass Cholinesterase-Hemmer bei Nawalny nachgewiesen wurden. Der Gerichtsmediziner der Sechenow-Universität in Moskau, Juri Pigolkin, sagte: „Im Blut oder Urin eine bestimmte Substanz festzustellen, die zum Versagen des cholinergen Systems führt, ist fast unmöglich.“

Die Zeitung „Iswestija“, die Teil der staatlich kontrollierten Mediengruppe „Gazprom-Media“ ist, schreibt: „Die Symptome, die Alexej Nawalny in der Klinik in Omsk aufwies, deuten nicht auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern hin.“

Nawalny: Strafverfahren statt Diagnose

Die staatliche Tageszeitung „Rossijskaja Gazeta“ hingegen räumt der Diagnose der Berliner Ärzte gar keinen Platz ein. Am Montag, als der Charité-Befund öffentlich wurde, vermeldete die Zeitung lediglich, dass ein Strafverfahren gegen Nawalny wegen Verleumdung vorübergehend ausgesetzt werde – weil sich „der Blogger derzeit in einem Krankenhaus in Deutschland“ befindet.

Im Juni hatte das russische Untersuchungskomitee mitgeteilt, der Oppositionspolitiker werde verdächtigt, einen Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg beleidigt zu haben.

Hoffnung auf die Bundeskanzlerin

Einen anderen Tenor legt hingegen die „Nowaja Gazeta“ an den Tag. In einer Reportage schreibt die Autorin Maria Epifanova: „Die Tatsache, dass Nawalny in die Klink Charité konnte, ist ein großer Erfolg.“

Sie betonte, dass die Charité „eine der besten medizinischen Einrichtungen in Deutschland“ sei und verwies auf die Bekanntheit von Christian Drosten, der die Bundesregierung während der Corona-Pandemie berät und den ersten Covid-19-Test in Deutschland entwickelte.

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Epifanova kommentiert in der „Nowaja Gazeta“ auch die Reaktion von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Nawalnys Befund: Merkel wünscht Nawalny gute Besserung und forderte die russischen Behörden auf, die Tat „bis ins Letzte aufzuklären – und das in voller Transparenz“.

In einer gemeinsamen Erklärung mit Außenminister Heiko Maas teilte Merkel mit, „die Verantwortlichen müssen ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden“. Epifanova schreibt: „Die Worte der Kanzlerin sind recht diplomatisch...aber eine so schnelle und eindeutige Reaktion der Bundeskanzlerin zeigt: Deutschland will Nawalnys Vergiftung nicht allein als russische Angelegenheit sehen.“ (mit dpa)

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