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Der Bundestag soll wieder kleiner werden - so lautet der Auftrag.

© Imago/Fotostand

Der Streit um die geplante Wahlrechtsreform: Gekappt und zugenäht

Die Wahlrechtskommission des Bundestags schließt ihre Arbeit ab. Ein Ergebnis: Das Reformmodell der Ampel. Wie hätte es sich 2021 ausgewirkt?

Der Bundestag soll kleiner werden – das ist der Hauptauftrag an die Wahlrechtskommission des Bundestags. Nach sieben Beratungsrunden soll an diesem Donnerstag ein Punkt gesetzt werden. Die Kommission – 13 Abgeordnete, 12 Sachverständige – will dann über Eckpunkte beraten, die in einem Zwischenbericht Ende August ans Parlament weitergereicht werden sollen.

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Ein Vorschlag wird ganz sicher in diesem Papier stehen: der von drei Ampel-Abgeordneten schon im Mai vorgestellte Reformvorschlag. Der hält an 299 Wahlkreisen fest, aber es ist nicht mehr sicher, dass die Sieger oder Siegerinnen in den Wahlkreisen tatsächlich, wie bisher, ein Direktmandat bekommen. Die Regierungsfraktionen könnten schon nach der Sommerpause mit einem Gesetzgebungsverfahren beginnen.

Das Ergebnis wäre, dass – gemessen am Ergebnis der Wahl vom vorigen September – 138 Abgeordnete weniger im Bundestag säßen. Das Ampel-Modell hält verlässlich die Normalgröße von 598 Sitzen ein. 736 Abgeordnete hat der aktuelle Bundestag, zuvor waren es 709.

Wegfallen würden all jene Parlamentarier, die über ein Ausgleichsmandat ins Parlament eingezogen sind. Das wären 104 Abgeordnete. Das wird allgemein als eher unproblematisch angesehen – nicht wenige in dieser Gruppe hatten gar nicht mit einem Bundestagssitz gerechnet und wurden quasi von einem relativ schlechten Listenplatz aus ins Parlament geschwemmt, weil der Ausgleichsbedarf so groß war.

34 gekappte Direktmandate

Der Streit – die Union will das Modell nicht mitmachen – dreht sich um die weiteren 34 Abgeordneten. Sie haben in ihren Wahlkreisen die meisten Erststimmen ergattern können – bekämen ihr Direktmandat aber nicht. Auch nach dem Ampel-Vorschlag findet zwar grundsätzlich Mehrheitswahl statt in den Wahlkreisen, und zu der gehört die Direktmandatsgarantie. Doch entfiele sie immer dann, wenn in einem Bundesland eine Überhangsituation entsteht.

Überhänge sind das Grundproblem des derzeitigen Wahlsystems und die Ursache für die Aufblähung des Bundestags. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zusteht. Über die Zweitstimmen wird der Parteienproporz ermittelt und damit die Sitzverteilung – das geltende Wahlrecht ist ihrem "Grundcharakter" nach (so das Bundesverfassungsgericht) eine reine Verhältniswahl mit Personalwahl in Wahlkreisen. Überhänge werden jedoch wegen der Direktmandatsgarantie nicht angetastet, stattdessen gibt es zur Wiederherstellung des Proporzes die Ausgleichsmandate.  

Ein Problem für die CSU...

Das Ampel-Modell – es nennt sich auch Kappungsmodell - bedeutet praktisch, dass in einem Land mit Überhang einer Partei deren Wahlkreissieger in eine Erstimmenreihung gebracht werden – die oder der Beste oben, und dann geht es nach Prozentanteilen nach unten. Die Direktmandate mit den schwächsten Ergebnissen entfallen, bis der Zweitstimmenproporz erreicht ist. 2021 gab es zwölf Überhänge der CDU in Baden-Württemberg, elf der CSU in Bayern, zehn der SPD in sechs Ländern und eines der AfD in Sachsen.

Vor allem die CSU hat ein Problem mit der Ampel-Lösung. Schaut man, wie es wirkt, ist das nicht verwunderlich: Der Partei würden alle Großstadtmandate verlorengehen. Drei in München, vier im Konglomerat Nürnberg/Erlangen/Fürth, eines in Augsburg – dazu dann noch drei in weiteren Wahlkreisen. Da eine Landesliste bei Überhängen nicht zieht, gäbe es parteiintern keine Möglichkeit, das durch Absicherung von Kandidaten dort auszugleichen. So hätte die CSU ein Repräsentationsproblem – die Landesgruppe wäre kleinstädtisch-ländlich geprägt.

Die prominentesten „Opfer“ wären Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer in Passau und der stellvertretende Parlamentarische Geschäftsführer Stefan Müller in Erlangen gewesen. Weitere "Gekappte": Bernhard Loos, Wolfgang Stefinger, Stephan Pilsinger (alle München), Max Straubinger (Rottal-Inn), Tobias Winkler (Fürth), Sebastian Brehm und Michael Frieser (Nürnberg), Volker Ullrich (Augsburg), Mechthilde Wittmann (Oberallgäu).

...aber auch die CDU...

Die CDU in Baden-Württemberg müsste unter anderen auf die frühere Migrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz (Tübingen), den Fraktionsvize Steffen Bilger (Ludwigsburg), Ex-Wirtschafts-Staatssekretär Thomas Bareiß (Zollernalb) und den Europa-Fachmann Gunther Krichbaum (Pforzheim) verzichten. Im Gegensatz zur CSU hätten sich die gekappten Direktmandate breiter über das Land verteilt. Es sind noch: Maximilian Mörseburg (Stuttgart), Marc Biadacz (Böblingen), Christina Stumpp (Waiblingen), Alexander Throm (Heilbronn), Moritz Oppelt (Rhein-Neckar), Olav Gutting (Bruchsal), Diana Stöcker (Lörrach), Yannick Bury (Emmendingen).

...und die SPD

Bei der SPD brächte das eigene Reformmodell den größten Einschnitt in Brandenburg. Dort gewannen die Sozialdemokraten 2021 alle Direktmandate, wenn auch teils knapp. Die „Gekappten“ wären Ariane Fäscher (Oberhavel), Simona Koß (Märkisch-Oderland) und Hannes Walter (Elbe-Elster) gewesen. Auch in Mecklenburg-Vorpommern müssten zwei SPD-Direktmandate gekappt werden: die beiden Überraschungssieger Anna Kassautzki und Erik von Malottki im Osten des Landes. Zweifache Kappung auch in Schleswig-Holstein: Sönke Rix (Rendsburg-Eckernförde) und Jens Stein (Kiel) wäre das Mandat nicht zugeteilt worden. In Niedersachsen hätte es Jakob Blankenburg (Lüneburg) getroffen, in Hessen Andreas Larem (Darmstadt), im Saarland Christian Petry (St. Wendel).

Der AfD, die ein Ampel-Gesetz unterstützen will (sie hat das Kappungsmodell schon 2020 vorgeschlagen), ginge in Sachsen das Direktmandat in Leipzig-Land verloren. Der Sieger dort hieß Edgar Naujok.

Eine dritte Stimme

Da die Ampel-Fraktionen in jedem Wahlkreis dennoch einen Direktabgeordneten haben möchten. soll eine Ersatzstimme eingeführt werden. Diese dritte Stimme kann an einen Bewerber oder eine Bewerberin einer anderen Partei vergeben werden. Kommt es im Wahlkreis zur Kappung von Siegern, werden die Ersatzstimmen von deren Wählern den Erststimmen der anderen jeweils zugeteilt – wer dann vorne liegt, hat das Direktmandat (es sei denn, es entsteht dadurch wieder ein Überhang, dann wandert das Direktmandat an den Nächstbesten).

Die Begründung für das Kappungsmodell lautet, dass alle Direktmandate eine „Zweitstimmendeckung“ haben müssen. Das klingt plausibel, bedeutet aber auch, dass Wähler nicht sicher sein können, ob in ihrem Wahlkreis auch in den Bundestag kommt, wer am Ende vorne liegt. Ob das verfassungskonform wäre, ist in der Wahlrechtskommission umstritten geblieben. Die Ersatzstimmenregelung dagegen ist schon von mehreren Verfassungsjuristen als möglicherweise grundgesetzwidrig bezeichnet worden.

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