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Ministerpräsident Saad Hariri – hier im Oktober 2019.

© Dalati & Nohra/dpa

Rückschlag für Reformbewegung: Saad Hariri ist wieder Ministerpräsident im Libanon

Bei seinem Rücktritt vor einem Jahr feierten die Menschen auf den Straßen Beiruts. Nun ist Saad Hariri wieder da – und will Reformen umsetzen.

Vor knapp einem Jahr hatte man auf den Straßen der libanesischen Hauptstadt den Eindruck, das kleine Mittelmeerland hätte die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen. Menschenmassen feierten am 29. Oktober 2019 in Downtown-Beirut den ankündigten Rücktritt des langjährigen libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri. Eine euphorische Feierstimmung lag über dem Land.

Zwei Wochen zuvor war der Zedernstaat von einer beispiellosen Welle an Waldbränden heimgesucht worden. Die Wut über die mangelnde Kompetenz der Regierenden in der Brandbekämpfung trieb die Menschen zu Hundertausenden auf die Straßen des Landes. Hinzu kam der Unmut über die Ankündigung der Politik, eine sogenannte „WhatsApp-Steuer“ einführen zu wollen, um den wichtigen Messengerdienst mit sechs US-Dollar im Monat zu besteuern.

Die Folge waren die größten Massenproteste seit Jahrzehnten im krisengebeutelten Libanon, die vom Volk schnell zur „libanesischen Revolution“ auserkoren wurde. Die Feuer und die Steuer fungierten dabei vor allem als Brandbeschleuniger. Den meisten Libanesen und Libanesinnen ging es darum, gegen Misswirtschaft, Korruption und die Unfähigkeit der Regierung, die schwerste Wirtschaftskrise seit Ende des Bürgerkriegs in den Griff zu bekommen, ihre Stimme zu erheben.

Dementsprechend groß war die Freude im Land, als nach zwei Wochen des ständigen Protests eine der wichtigsten Komponenten des alten, verhassten Systems angesichts der täglichen Demonstrationen seinen Rückzug ankündigte. Mit dem Rücktritt Hariris breitete sich in der Reformbewegung die Hoffnung aus, erstmals mit friedlichem Protest auch tatsächlich etwas verändern zu können.

Nach der Explosion in Beirut ist die Lage verheerend

Ein Jahr später ist von dem Gefühl des Freudentaumels und der Euphorie des Beiruts im Herbst 2019 nicht mehr viel zu spüren. Die finanzielle Situation des Zedernstaates könnte verheerender nicht sein, die weltweite Pandemie hat auch den kleinen Mittelmeerstaat fest in der Hand, die Trauer und Wut über die desaströse Explosion im Beiruter Hafen von Anfang August ist noch lange nicht verdaut. Und nun kippt auch noch eines der wenigen erfolgreichen Symbole der libanesischen Protestbewegung.

Nachdem der Universitätsprofessor Hassan Diab kurz nach der Explosions-Katastrophe im Sommer seinen Rücktritt erklärte und das Land lediglich geschäftsführend weiter regierte, ernannte Präsident Michel Aoun vor wenigen Stunden Hariri als neuen Premierminister. Damit taucht der Sohn des ermordeten ehemaligen Premierministers Rafik Hariri ein Jahr nach seinem Rückzug wieder auf der politischen Bühne auf.

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Grund dafür ist auch das besondere politische Systems des Landes, nachdem die wichtigsten drei politischen Posten nach religiösem Proporz aufgeteilt werden müssen. So muss der Premierminister stets ein Sunnit sein beziehungsweise von den im Parlament vertretenen sunnitischen Parteien zumindest geduldet werden. Auch aus Mangel an Alternativen war Hariri offenbar der einzige, auf den sich die Mehrheit der libanesischen Volksvertretung heute einigen konnte.

Hariri will Vorschläge Macrons umsetzen

Und so erhielt der 50-Jährige eine Mehrheit von 65 Stimmen. Auch die schiitische Allianz aus Hisbollah und Amal-Partei plus Verbündete wählten Hariri erneut ins Amt oder kündigten an, ihn zumindest zu unterstützen.

Nach seiner Ernennung kündigte der Multimillionär an, eine Regierung aus überparteilichen Experten zu bilden, um wirtschaftliche und politische Reformen durchzuführen. Außerdem wolle er die Reforminitiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron umsetzen, um die ökonomische Situation des Landes zu verbessern. In den sozialen Netzwerken wurde Hariris Rückkehr größtenteils mit Bestürzung aufgenommen.

Der libanesische Aktivist Nizar Hassan bezeichnete die Wiederwahl Hariris im Interview mit dem arabischen Nachrichtensender Al Jazeera als „Höhepunkt der Konterrevolution.“ Vor allem die junge Generation sieht immer häufiger keine Perspektive mehr in ihrem Heimatland und wandert nach Europa, Kanada oder die USA aus. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sollen mittlerweile akut von Armut bedroht sein.

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