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Ein Konflikt, der Angst macht: Demonstranten protestieren vor der amerikanischen Botschaft in Berlin gegen die Eskalation des Konflikts zwischen Nordkorea und die USA.

© Britta Pedersen/dpa

Rückkehr der Atomwaffenfrage: Deutsche brauchen Nachhilfe in Sicherheitspolitik

Die Rüstungskontrolle wankt. Deutschland hat kaum noch Politiker, die sich da auskennen. Die neuen Parteiführungen müssen rasch lernen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Es liegt in der Natur des Menschen, unangenehme Fragen zu verdrängen: Krebsvorsorge, Einbruchsprävention, ausreichende Versicherungen für Jobverlust und Rentenzeit. Die Ausreden sind vielfältig: Man hat gerade etwas anderes zu tun, und es wird schon nicht so schlimm kommen. In existenzbedrohenden Sicherheitsfragen ist Gefahrenverdrängung ein riskantes Verhalten. Eigentlich weiß das jeder. Die Chancen, eine Krebserkrankung zu überleben, steigen, wenn sie früh erkannt wird und der Patient sich informiert.

Die USA, Russland und China wollen keine Begrenzung

Nun kehrt die Bedrohung durch Atomwaffen nach Europa zurück. Zentrale Abrüstungsverträge werden gebrochen oder laufen aus. Die entscheidenden Mächte – die USA, Russland und China - zeigen kein Interesse an zeitgemäßer Rüstungskontrolle. Das war bei der Münchner Sicherheitskonferenz unüberhörbar.

Drei Jahrzehnte hatten die Deutschen wenig Grund, sich mit der Bedrohung durch Atomwaffen zu beschäftigen. Nach dem Mauerfall und der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts lebten sie im glücklichen Gefühl, keine Gegner mehr zu haben.

Das ist vorbei. Doch viele wollen es nicht wahrhaben. Wladimir Putin lässt die russischen Streitkräfte regelmäßig Angriffe auf Nato-Gebiet üben, inklusive des Einsatzes von Atomwaffen. Auch in den USA und in China werden neue Atomwaffen entwickelt. In Deutschland wird das gerne verdrängt.

Bei der letzten Großdebatte waren Baerbock, Lindner, Ziemiak Kinder

Deutschland müsste jetzt debattieren: Wie groß ist die Gefahr für uns? Was können wir dagegen setzen? Doch Politik und Gesellschaft sind nicht fähig zu dieser Diskussion. In drei Jahrzehnten ist eine ganze Generation herangewachsen, die sich nicht um das Thema kümmern musste. Es fehlt jedes Grundwissen. Das ist niemandem vorzuwerfen. In fast allen Parteien geben Personen den Ton an, die in den Jahren der letzten großen Atomwaffendebatte Mitte der 80er Jahre Kinder waren wie Annalena Baerbock, Christian Lindner, Paul Ziemiak. Oder mitten im Studium wie Heiko Maas und Annegret Kramp-Karrenbauer. Das gilt auch für Journalisten und andere Multiplikatoren. Wer wirklich Ahnung hat, hat weiße Haare. Und ist im Zweifel im Ruhestand.

Erkennen die Jüngeren, dass sie sich in Crashkursen kundig machen müssen? Die ersten Reaktionen sind wenig ermutigend. Das Thema wird verdrängt. Amerikaner und Russen soll sich darum kümmern, es sind doch deren Verträge. Deutschland hat keine Atomwaffen, was geht uns das an? Und Atomwaffen sind von gestern, heute gibt es ganz andere Gefahren wie Cyber und Klima.

Abschreckung ist die einzig wirksame Friedensgarantie

Das ist eine riskante Fehleinschätzung. Die neue Atomwaffenfrage hat das Potenzial, Europa sowie die Nato zu spalten und Deutschland aus der Mitsprache in den entscheidenden Runden auszuschließen. Noch immer haben vier Prinzipien ihre Gültigkeit. Erstens ist gegenseitige Abschreckung die beste Garantie, dass diese fürchterlichen Waffen niemals eingesetzt werden. Das funktioniert nur, wenn jeder weiß: Setze ich Atomwaffen ein, tut der Gegner es auch; also lasse ich es besser. Dafür muss man nicht gleich viele Waffen wie der Gegner haben, das ist ein falscher Einwand. Man muss ein ausreichendes Abschreckungspotenzial haben.

Zweitens kann Europa sich nicht ohne Hilfe der USA verteidigen; also muss Europa alles tun, um sich nicht von den USA abzukoppeln. Drittens muss Deutschland ein existenzielles Interesse haben, am Tisch der Atomwaffenstaaten mitzureden. In einem realen Krieg in Europa zielen russische Atomwaffen auch auf uns Deutsche. Deshalb muss die deutsche Regierung ein Mitspracherecht haben, wie die amerikanische, britische oder französische Antwort in Europa aussieht. Den Sitz am Tisch hat Deutschland dank der so genannten „nuklearen Teilhabe“. Im Falle eines Falles würden deutsche Flugzeuge mit amerikanische Atomwaffen ausgerüstet. Viertens wäre Deutschland „nuklear erpressbar“, wenn es von vornherein auf die Abschreckungswirkung von Atomwaffen verzichtet, weil es nichts entgegensetzen kann, wenn ein Gegner droht: Tu dies oder jenes, wenn du einen Angriff vermeiden möchtest.

Dazulernen wie Joschka Fischer und Guido Westerwelle

Solche Zusammenhänge kann man lernen und seine Schlüsse daraus ziehen. Wie Joschka Fischer (Grüne) und Guido Westerwelle (FDP). Sie hatten, als sie noch unbedarfte Jungpolitiker waren, den einseitigen Abzug der taktischen US-Atomwaffen aus Deutschland gefordert. Dann wurden sie Außenminister und begriffen rasch, dass dies den deutschen Interessen schadet. Wenn überhaupt, käme der Abzug nur im Tausch gegen den garantierten und überprüfbaren Abzug der russischen Atomwaffen in Frage, die sich auf Deutschland und seine Nachbarn richten. Die bessere Garantie freilich ist, an der Abschreckung beteiligt zu sein.

Dies ist Deutschlands Dilemma: Es hat allergrößtes Interesse an neuen Abrüstungsverträgen, selbst aber kein Druckpotenzial. Und solange es keine atomare Rüstungskontrolle gibt, sind Deutschland und die anderen europäischen Nato-Staaten auf ein so enges Bündnis mit den USA angewiesen, dass die abschreckende Wirkung der US-Waffen sie unzweifelhaft mit schützt.

Voreilige Festlegungen, was Deutschland nach dem absehbaren Aus für die bisherige Rüstungskontrolle tut oder lässt, sollten alle Parteien vermeiden. Erst kundig machen und das Pro und Contra diskutieren, dann entscheiden.

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