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Das Parteibuch in der Hand

© dpa/Bernd Thissen

Die SPD und das Risiko Volksentscheid: „Demokratie wird zur Sache der Bessergestellten“

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel sieht Volksentscheide und Mitgliedervoten skeptisch. Bei der Wahl zum SPD-Vorsitz sieht er weitere Probleme.

Von Hans Monath

Wolfgang Merkel (67) ist Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Berlin (WZB) und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität.

Herr Merkel, Volksabstimmungen werden als große Bereicherung der Demokratie gefeiert. Kann die Empirie das bestätigen?
Die Theorie als solche ist ja bestechend, die Idee, dass das Volk selbst in Sachfragen entscheidet, normativ überzeugend. Der Volkswille wird nicht gebrochen von repräsentativen Zwischeninstanzen wie Parteien oder Parlamenten. Wenn wir uns die Wirklichkeit ansehen, sieht es allerdings etwas anders aus.

Was sagt die Empirie?
Schauen wir uns das Volk an, das zur Abstimmung geht. Wenn man es sarkastisch sagen wollte, dann geht häufig nur eine Schrumpfversion des Volkes zur Abstimmung. Es stimmt nur ein kleinerer Teil des Volkes ab, und in aller Regel sind es die Bessergebildeten – im Übrigen auch mehr Männer als Frauen. Wenn Volksabstimmungen wie in der Schweiz oder Kalifornien häufiger stattfinden, sinkt die Wahlbeteiligung erheblich. In der Schweiz beträgt sie im Schnitt nur rund 42 Prozent im Bund.

Und das ist schlimm?
Zumindest ist die soziale Selektion dann stark. Schon bei Parlamentswahlen stimmen in vielen Industrieländern nur zwei Drittel der Wähler ab. Bei Plebisziten wird die Zwei-Drittel-Demokratie zur 50-Prozent-Demokratie, in der die Hälfte der Wahlberechtigten außen vor bleibt.

Ein Schweizer Politikwissenschaftler brachte das auf die Formel: Hier findet der Selbstausschluss der Inkompetenten statt. Wir wissen, dass viele Menschen mit geringer Bildung sich als nicht kompetent erachten, um Sachfragen zu entscheiden. Dann bleiben sie lieber zu Hause. Die Demokratie wird dann eine Sache der selbstgewissen Bessergestellten.

Wolfgang Merkel (67) ist Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Berlin (WZB) und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität.
Wolfgang Merkel (67) ist Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Berlin (WZB) und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität.

© Thilo Rückeis

Gibt es Untersuchungen über die Ergebnisse? Werden liberale oder illiberale Tendenzen in Plebisziten gestärkt?
Das kommt darauf an, in welchen Diskursen sich eine Gesellschaft befindet. Wenn wir etwa polarisierte öffentliche Debatten haben – und das ist zunehmend der Fall, sowohl in West-, wie in Osteuropa –, dann besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse von Plebisziten eher ausgrenzen als einschließen. Das ist eines der ganz großen Probleme von Volksabstimmungen, dass sich die harte Mehrheitsregel durchsetzt.

Warum ist das ein Problem?
50,1 Prozent der Abstimmenden können eine Entscheidung treffen, 49,9 Prozent aber fallen unter den Tisch. Bei allgemeinen Wahlen ist es so, dass es ebenso Gewinner und Verlierer gibt. Aber auch die Verlierer bekommen in der Regel Sitze im Parlament und vertreten dort die Politik, für die sie gewählt wurden.

In polarisierten Kontexten ist es eher riskant, Volksabstimmungen durchzuführen. Das typische Muster ist eine Tendenz zu illiberalen Entscheidungen, das heißt: gegen die Integration der EU, gegen Minderheiten, vor allem gegen migrantische oder religiöse Minderheiten. Knappe Mehrheiten oder gar aktivistische Minderheiten entscheiden.

Der Brexit ist ein Beispiel für eine Volksabstimmung in aufgeheiztem Diskurs. Hat er die Befürworter von Plebisziten nach Ihrem Eindruck nachdenklich gemacht?
Das sehe ich nicht so. Es gibt nach wie vor eine große Gruppe von Befürwortern in der politischen Welt, aber auch unter Bürgerinnen und Bürgern. In der politischen Welt waren es traditionell die linken Parteien, die sich für Volksabstimmungen starkgemacht haben.

Mittlerweile sind aber die entschiedensten Befürworter bei den Rechtspopulisten zu finden, weil sie wissen, dass ihre illiberale Politik sich über Volksentscheide viel besser durchsetzen lässt als das in Repräsentationsmechanismen möglich wäre, wo meist Kompromisse gefunden werden müssen.

Der Brexit hat gezeigt, dass ein ganzes Land durch eine solche Entscheidung tief gespalten werden kann. Nur 52 Prozent haben für den Ausstieg aus der EU gestimmt, aber ihr Wille muss nun durchgesetzt werden. Demokratie ist aber mehr als eine Mehrheitsentscheidung. Deswegen sollte auch in Großbritannien das Lager der Unterlegenen mit einem weichen Brexit, etwa einer Zollunion eingebunden werden.

Die SPD sucht ihre neue Führung gerade in einer Urabstimmung. Gelten die Einwände gegen Volksabstimmungen auch für Parteiplebiszite?
Ich glaube, diese Fälle sind anders gelagert. Es gibt für die meisten Parteiabstimmungen ein hohes Quorum, es dürfen nicht weniger als 50 Prozent abstimmen, sonst ist das keine breite Partizipation der Mitglieder.

Es gibt unterschiedliche Erfahrungen. 1993 kandidierten in der SPD Gerhard Schröder, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Rudolf Scharping gegeneinander um den Parteivorsitz. Scharping gewann, weil sich Schröder und Wieczorek-Zeul mit ihren klaren Profilen gegenseitig blockierten.

Das ist ein Beispiel dafür, dass es bei Urabstimmungen in Parteien eine Prämie für die Mittelmäßigkeit geben kann. Wenn eine Mehrheit Reformen in einer Partei will, wird sie eher auf Personen setzen, die ein wirkliches Änderungsprogramm verkörpern. Sonst zementiert sie den Status quo.

Die kommissarische SPD-Führung hat versprochen, mit dem Kandidatenduell werde die Partei erneuert und strittige, inhaltliche Fragen geklärt. Ist das aufgegangen?

Das hängt davon ab, welches Duo sich zum Schluss durchsetzt. Ich sehe nicht, dass mit Geywitz und Scholz ein neuer Aufbruch gewagt würde. Da würde es Kontinuität geben. Wenn Esken und Walter-Borjans sich durchsetzen, würde das eine stärkere Reform der SPD und stärkere Konflikte innerhalb der SPD, aber auch stärkere Konflikte in der SPD und mit anderen Parteien bedeuten. Die politische Öffentlichkeit in Deutschland honoriert aber in aller Regel innerparteiliche Konflikte nicht. Das riskantere Duo ist deshalb sicher Esken/Walter-Borjans.

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