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Der Gerichtssaal wurde extra für den Prozess aus dem Boden gestampft.

© AFP / Gianluca Chininea

Riesiger Mafia-Prozess in Italien beginnt: Anklageschrift gegen die ’Ndrangheta umfasst 13.500 Seiten

Längst haben die Mafiosi aus Kalabrien der Cosa Nostra den Rang abgelaufen. Ob ein jetzt beginnender Prozess ihre Strukturen zerschlagen kann?

Ein Prozess der Superlative steht bevor: Vor dem Richter in der kalabresischen Kleinstadt Lamezia Terme werden am Mittwoch über 350 Beschuldigte Platz nehmen; vorgeladen sind insgesamt über 900 Zeugen. Aus Sicherheitsgründen wird der Prozess in einem eigens aus dem Boden gestampften, 3300 Quadratmeter großen, bunkerähnlichen Gerichtssaal stattfinden.

Denn in der 13.500 Seiten langen Anklageschrift sind 400 Straftatbestände aufgelistet – das halbe Strafgesetzbuch. Die Anklage reicht von Mord, Erpressung und Raub über Drogenhandel, illegalen Waffen- und Sprengstoffbesitz bis hin zur Geldwäsche und anderen Wirtschaftsdelikten. Und natürlich wird praktisch allen Beschuldigten Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung vorgeworfen.

Die Hartnäckigkeit des Oberstaatsanwalts von Catanzaro, Nicola Gratteri, hat das Verfahren gegen die Mafia-Organisation ’Ndrangheta überhaupt erst ermöglicht. Vier Jahre lang hatte er mutmaßliche Mitglieder überwacht, Zeugen und Mafia-Aussteiger befragt und dubiose Geldströme nachverfolgt.

Dann schlugen 2500 Mann der Carabinieri-Spezialeinheiten ROS bei einer Großrazzia mit dem Decknamen „Rinascita-Scott“ in mehreren italienischen Regionen zu: Im Dezember 2019 wurden 334 Mitglieder und Unterstützer der ’Ndrangheta-Clans aus der Provinz Vibo Valentia festgenommen.

„Wir haben die Führungsspitze der ’Ndrangheta von Vibo Valentia eliminiert“, erklärte Gratteri nach der Razzia. Gratteri ist der derzeit prominenteste Anti-Mafia-Staatsanwalt Italiens und bringt jedes Jahr Hunderte Verdächtige hinter Gitter, allein im Jahr 2018 über 900.

Staatsanwalt Gratteri: Ganz oben auf der Todesliste

Gratteri war vor einigen Jahren auch beteiligt gewesen bei der Zerschlagung der ’Ndrangheta-Zellen im Schweizer Kanton Thurgau und in verschiedenen deutschen Bundesländern. Auch im Rahmen von „Rinascita-Scott“ hatte Gratteri in der Schweiz, in Deutschland und in Bulgarien ermittelt.

Der prominente Mafia-Jäger lebt gefährlich: Er steht seit Jahren ganz oben auf der Todesliste der Mafia und muss rund um die Uhr von einem Dutzend Personenschützern bewacht werden.

Schon vor dem Beginn des Prozesses am Mittwoch werden in Italien Vergleiche zum sogenannten „Maxi-Prozess“ gegen die sizilianische Cosa Nostra gezogen: Im Jahr 1987 waren dabei mehrere Hundert Mafiosi in Palermo zu insgesamt 2665 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

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Die sizilianische Mafia hat sich nie mehr davon erholt. Längst hat die kalabrische ’Ndrangheta die Cosa Nostra als die mächtigste und brutalste italienische Mafia-Organisation abgelöst. Unter den Angeklagten des neuen Prozesses befinden sich nicht nur gewöhnliche Mafiosi, sondern auch zahlreiche Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Justizangestellte, Dorfpolizisten und sogar ein Carabinieri-General.

Dank ihrer Verbindungen zu ungetreuen Beamten, korrupten Unternehmern und mafiösen Freimaurern sei es den Clans gelungen, sogar an die Datenbanken der staatlichen Sicherheitsorgane zu gelangen.

„Kokain-König“ und ehemaliger Abgeordneter der Berlusconi-Partei

Die zwei Schlüsselfiguren des Verfahrens sind Luigi Mancuso und Giancarlo Pittelli. Mancuso ist der Boss des gleichnamigen Clans der Kleinstadt Limbadi. Er gilt als „Kokain-König“ Kalabriens und verfügt laut den Ermittlern über beste Verbindungen zu den kolumbianischen Drogenkartellen, zu deren Todesschwadronen und auch zur Cosa Nostra, die bei der Verteilung der Drogen hilft.

Der Rechtsanwalt Pittelli wiederum ist ehemaliger Abgeordneter und Senator der Berlusconi-Partei Forza Italia. Mancuso und Pittelli sind von verdeckten Ermittlern dabei gefilmt worden, wie sie in Rom in teuren Restaurants geschäftliche Dinge zu besprechen hatten. Laut der Anklage ging es vor allem um Geldwäsche.

Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri (R) mit seinem Ermittler-Team.
Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri (R) mit seinem Ermittler-Team.

© AFP / Alberto Pizzoli

Die kriminelle Symbiose von Mafia, Politik, Wirtschaft und Freimaurerei sei möglich geworden, weil man die ’Ndrangheta lange unterschätzt habe, sagt Gratteri: „Jahrzehntelang hielt sich die Narration, dass es sich bei der ’Ndrangheta um eine Mafia aus einfachen Bauern, Hirten und vielleicht noch Entführern und Drogenhändlern handle.

Es wurde dabei unterschlagen, dass die ’Ndrangheta auch wählen geht und wählen lässt“, sagt der Staatsanwalt. In Kalabrien sind die Stimmen der Mafia bei Wahlen oft entscheidend – und von den gewählten Politikern verlangen die Clans anschließend Gegenleistungen.

Diese bestehen in der Regel in der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen oder in der Besetzung von öffentlichen Stellen mit Clan-Mitgliedern. Die Konkurrenz wird dann zur Zahlung von Schutzgeld gezwungen: Laut Schätzungen Gratteris entrichten allein in Kalabrien rund 40.000 Unternehmen den sogenannten „Pizzo“.

Kalabrien braucht einen Kulturwandel

„Es geht der ’Ndrangheta nicht nur um Geld, sondern vor allem auch um die Demonstration ihrer Macht, um die Kontrolle des Territoriums“, betont die Anthropologin und Anti-Mafia-Aktivistin Chiara Tommasello aus Reggio Calabria. Die ’Ndrangheta wolle sich an die Stelle des Staats setzen. Das Schutzgeld entspricht somit fast einer Steuer.

Ihre Forderungen setzt sie im Zweifel mit Einschüchterung und Gewalt durch: töten und dafür sorgen, dass der Leichnam nie wieder auftaucht. Im Mafia-Jargon heißt das „lupara bianca“. In dem Rekord-Prozess wird es um vier solcher Morde gehen. Eines der Opfer wurde offenbar von seinem eigenen Clan getötet – weil er homosexuell gewesen sein soll.

Der Prozess in Lamezia Terme ist laut Gratteri „ein Meilenstein bei der Bekämpfung der ’Ndrangheta“. Ob er so erfolgreich sein wird wie der gegen die Cosa Nostra? Tommasello sieht das kritisch: „Es braucht einen grundlegenden kulturellen Wandel in Kalabrien.“

Ob dieser eingesetzt hat, werden die Regionalwahlen vom 11. April zeigen können: Neben vielen alten Gesichtern treten diverse neue Bürgerlisten mit unverbrauchten Kandidaten an. „Die Wahlen können zu einer großen Chance für Kalabrien werden – oder aber den Status Quo auf dramatische Weise bestätigen“, sagt Chiara Tommasello.

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